Depression: Hilfe für die verdunkelte Seele
Krank oder nicht? Psychiater diskutieren in Berlin, ob und wie man leichte Depressionen behandeln soll. Und darüber, wie man vorbeugen kann.
„Wir übertherapieren Menschen, die keine Behandlung benötigen, und wir lassen andere unbehandelt, die Hilfe brauchen.“ Der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), bei dem sich in der letzten Woche an die 9000 Teilnehmer im Berliner ICC drängten, begann mit einem Paukenschlag: Altmeister Allen Frances von der amerikanischen Duke-Universität kritisierte in seiner temperamentvollen Rede eine „Hyperinflation“ psychiatrischer Diagnosen. Er sieht sie nicht allein in seinem eigenen Land, wo es gerade die Neufassung des Kodierungssystems den Ärzten nahelegt, bei länger als zwei Wochen dauernder Trauer schon eine Depression in Betracht zu ziehen. „Wir sollten uns stattdessen intensiver um die fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung kümmern, die wirklich eine psychische Erkrankung haben“, sagte Frances.
Von der Gefahr, dass die Grenze zwischen Befindlichkeitsstörung, Lebenskrise und behandlungsbedürftiger Krankheit aufgeweicht werde, sprach auch Josef Hecken, unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen.
Machen wir uns seelisch kränker, als wir es tatsächlich sind? Das war eine der Fragen, die den Kongress durchzogen. Die Daten dazu sind auf den ersten Blick widersprüchlich: Zwar ist der Anteil an psychiatrischen Diagnosen unter den Gründen für eine vorzeitige Berentung in den letzten Jahren angestiegen, auch die Krankenkassen melden seit Jahren steigende Behandlungszahlen. Die Zahl der Frühberentungen hat insgesamt aber abgenommen. Es gibt also vor allem eine Verschiebung weg von den körperlichen Diagnosen – hinter denen in manchem Fall früher vielleicht ein seelischer Konflikt stand. Und das Modul „Mental Health“ des Deutschen Gesundheitssurveys, für das über 5000 Bundesbürger neuropsychologisch untersucht wurden, belegt, dass die seelischen Erkrankungen im Vergleich zu einer ähnlichen Untersuchung aus dem Jahr 1998 nicht zugenommen haben.
Der Behandlungsbedarf allerdings ist anscheinend gewachsen, sagte Frank Jacobi von der Psychologischen Hochschule Berlin, Mitautor der Studie. Er führt dies einerseits auf neue Anforderungen der Arbeitswelt, andererseits auf mehr Offenheit gegenüber seelischen Leiden zurück. Letzteres ist eine gute Nachricht. „Krankheiten wie Depressionen werden heute nicht mehr so stark stigmatisiert und weniger oft als beschämender Schwächezustand wahrgenommen“, sagte Wolfgang Maier von der Universität Bonn, Präsident der DGPPN.
Menschen sprechen heute offener über seelische Probleme
Die Hürde, die Menschen davon abhalten könnte, mit ihrem Arzt über seelisches Unwohlsein zu sprechen, ist also heute nicht mehr so hoch wie vor einigen Jahrzehnten. Einen deutlichen Beleg dafür liefert der dramatische Anstieg der Verordnungen von Medikamenten gegen Depressionen, vor allem der Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Sie haben sich seit 1995 vervierfacht, 1,3 Milliarden Tagesdosen werden derzeit jährlich in Deutschland verkauft.
Ein Drittel der Bevölkerung leidet, übers Jahr gerechnet, an einer oder mehreren seelischen Störungen, die meisten in Zusammenhang mit Angst und Alkohol, über acht Prozent aber auch an einer Depression. Sind die Pillen auch geeignet, um in leichteren Fällen zu helfen? Das war eine der Streitfragen auf dem Kongress. Ulrich Hegerl, Psychiater an der Uni Leipzig, sprach sich dafür aus, einen Versuch zu wagen. Auch eine „leichte“ Depression gehe schließlich mit gravierenden Beschwerden einher, oft zum Beispiel mit quälender Schlaflosigkeit. „Nach zwei bis drei Wochen sind wir relativ sicher, ob der Patient auf die Medikation anspricht, dann können wir ihm damit wirklich helfen.“
In Studien ist die Wirkung der SSRI bei leichten Depressionen nicht überwältigend, anders als bei der schweren Depression: Je stärker die Depression, desto mehr hebt sich die Wirkung von Antidepressiva gegen die von Scheinpräparaten ab, lautet die Kernaussage von Studien des Psychologen und Placebo-Experten Irving Kirsch. „Doch auch kleine Verbesserungen der Befindlichkeit sind bedeutsam, in Studien gehen oft ungeeignete Patienten ein, im Versorgungsalltag können wir Antidepressiva flexibler einsetzen“, gab Hegerl zu bedenken.
Ob Psychopharmaka bei einer leichten Depression verschrieben werden sollen, ist umstritten
In der Mehrzahl der Fälle sind es die Hausärzte, die sie bei leichteren Depressionen verordnen, oft auch denjenigen ihrer Patienten, die unter körperlichen Krankheiten leiden. Die vor vier Jahren herausgegebene Nationale Versorgungsleitlinie zu Depressionen empfiehlt SSRIs bei leichten Depressionen im Normalfall allerdings nicht. „Gegen einen Behandlungsversuch spricht, dass SSRIs keine Lutschbonbons sind“, warnte Tom Bschor, Psychiater an der Berliner Schlosspark-Klinik. Neben möglichen Nebenwirkungen auf das Herz und auf die Blutungsneigung nannte er ein weiteres Risiko, das allerdings noch nicht wissenschaftlich belegt ist: Da die Mittel möglicherweise dauerhaft Einfluss auf die Biochemie des Zentralnervensystems nehmen, könnte bei ihrem Absetzen das Rückfallrisiko erhöht sein. Das ist bisher zwar Spekulation, wie Bschor hervorhob. Umgekehrt schneide die Psychotherapie aber in Sachen Vorbeugung eines Rückfalls gut ab.
„Wir dürfen allerdings nicht so tun, als hätte die Psychotherapie keine unerwünschten Wirkungen. Sie sind nur schlechter untersucht“, konterte Hegerl. Auf dem Kongress wurden in einer eigenen Sitzung auch Studien zu diesem Thema vorgestellt. Oft fehle es an einer effektiven Zielplanung zusammen mit dem Patienten, in einigen Fällen komme es auch zu einer problematischen Abhängigkeit vom Therapeuten, sagte der Charité-Psychiater Rainer Hellweg.
Eine kurzzeitige Psychotherapie kann den Weg aus der Depression abkürzen
Eine „Richtlinienpsychotherapie“, wie sie heute von den Krankenkassen bezahlt wird, ist allerdings schon deshalb nicht die Therapie der Wahl für alle Menschen mit leichten Depressionen, weil die Therapieplätze knapp und die Wartezeiten lang sind, darin waren sich Hegerl und Bschor einig. Bei der DGPPN wirbt man dafür, auch Kurzzeitpsychotherapien von wenigen Sitzungen angemessen zu honorieren. „Sie wirken nachweislich bei leichten Depressionen“, sagte Kongresspräsident Wolfgang Maier.
In der Leitlinie von 2009 wird zudem eine aufmerksame „aktiv-abwartende Begleitung“ leichter Depressionen durch den Arzt erwähnt. Denn in einigen Fällen klingen sie von allein wieder ab. Johanniskrautextrakten als pflanzlicher Alternative zu synthetischen Medikamenten wird dagegen eine „umstrittene Wirksamkeit“ attestiert, ein Therapieversuch solle allenfalls mit geprüften standardisierten Extrakten gemacht werden. Die Leitlinie des britischen Nationalen Gesundheitsinstituts Nice nennt zudem computergestützte Psychotherapien, spezielle Schlafhygiene und nicht zuletzt Bewegung als einfacher verfügbare Hilfen.
Das sind Vorschläge, die auch zum Motto des DGPPN-Kongresses „Von der Therapie zur Prävention“ passten. Die Psychiater richten damit den Blick nicht nur pauschal auf einen gesunden Lebensstil, sondern auf Vorbeugung bei schon vorhandenen Warnsignalen von erhöhter Stressbelastung bis hin zu „Risikozuständen“ wie dem „Burn-out“. Einerseits sei es wichtig, schon bei diesen Vorstufen Beratung und Hilfe anzubieten, sagte Maier. Andererseits müsse man mit der Ausweitung des Krankheitsbegriffs aber vorsichtig sein, dürfe Befindlichkeitsstörungen ebenso wenig medikalisieren wie gesellschaftliche Probleme.
Eine Mahnung, die sich durch viele Sitzungen dieses Kongresses zog: Michael Linden von der Reha-Klinik Seehof der Deutschen Rentenversicherung in Teltow formulierte sie während einer Sitzung, in der nach der Zunahme von Stressbelastungen gefragt wurde, zur Abwechslung einmal umgekehrt: „Wir Psychiater brauchen auch ein Konzept, um Menschen für gesund zu erklären.“