Forschung: Herrscher im Staat der nackten Ratten
An einer Kolonie von Nacktmullen untersuchen Berliner Forscher, ob Säugetiere das Geschlecht des Nachwuchses "planen".
Die Königin ist leicht zu erkennen. Sie ist größer, vor allem länger, als die anderen Tiere und ihre Haut ist heller. Begegnet ihr in den Tunneln ein anderes Tier, ist es immer die Königin, die über den Untertan klettert. Sie ist auch die Einzige, die Nachkommen zur Welt bringt. Mit ihrem Urin verteilt sie Hormone, die die Geschlechtsreife der anderen Weibchen unterdrücken. Jeder Staat hat eben seine Regeln, auch der der Nacktmulle.
Diese kleinen Nagetiere, die aussehen wie nackte Ratten mit ihrer schrumpeligen rosafarbenen Haut, ihren viel zu großen Schneidezähnen und ihren zusammengekniffenen Augen, leben eigentlich in den Halbwüsten Ostafrikas. Dort ernähren sie sich in ausgedehnten unterirdischen Gangsystemen von Pflanzenwurzeln. Bis zu drei Monate können sie sich von den ausladenden Wurzeln einer Agave ernähren. Trinken müssen sie nicht, denn in den Wurzeln speichern die Pflanzen auch kostbares Wasser.
In einem Raum des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in Berlin-Friedrichsfelde gibt es seit September 2008 eine Kolonie dieser Tiere. Denn Thomas Hildebrandt, 45, groß, nett, gemütlich, genau so, wie man sich einen Tierarzt vorstellt, möchte eine Theorie beweisen: Dass Säugetiere beim Nachwuchs beeinflussen können, ob sie mehr Männchen oder Weibchen zur Welt bringen. Für die Nacktmulle wurde eigens ein Bau aus Plexiglas angefertigt. Dort leben sie nun bei 50 Prozent Luftfeuchtigkeit, 27 Grad Celsius und konstanter Beschallung mit klassischer Musik. „Das beruhigt die Tiere“, sagt Hildebrandt. „Dann regen sie sich nicht so auf, wenn jemand in den Raum kommt.“
In einer Art großem Aquarium steht der Bau, neun durchsichtige zylinderförmige Räume verbunden durch kleine Röhren. In einem der Räume haben die Tiere ihre Speisekammer eingerichtet, Maiskörner und Möhrenstücke liegen zwischen den Holzspänen. Ein anderer Raum dient als Schlafkammer, ein weiterer als Toilette. „Am Anfang sahen alle Räume gleich aus“, sagt Hildebrandt. Aber die Nacktmulle hätten schnell ihre Ordnung errichtet.
Nicht nur der Bau, auch die Sozialstruktur ist organisiert. „Es gibt die Tunneler, das sind in der Regel Weibchen, die die Grabarbeiten machen.“ Dafür sind auch die ausgeprägten Schneidezähne nötig. Die Plexiglasgänge sind übersät von Bissspuren, die das Plastik leicht milchig erscheinen lassen. Eine andere Aufgabe haben die Soldaten. „In der Natur dringen Schlangen in den Bau ein und fressen die Nacktmulle“, erklärt Hildebrandt. Ein Soldat opfere sich dann und verstopfe mit seinem Körper den Gang, während hinter ihm andere Soldaten den Gang mit Erde verschütteten.
Und dann gibt es noch drei bis vier Männchen, für die sich Hildebrandt besonders interessiert. Sie dürfen die Königin befruchten. „Die haben ein ziemlich angenehmes Leben“, sagt der Forscher. Wenn man alle Nacktmulle in eine große Kiste packe, dann würden die Tiere ihren Staat fleißig neu organisieren. „Nur ein paar Tiere liegen faul neben der Königin. Das sind die Könige.“
Hildebrandt interessiert sich aber nicht wegen ihrer Faulheit für die Könige, sondern weil er glaubt, dass sie die eigentlichen Herrscher im Nacktmull-Staat sind. „Denen geht es so gut, dass sie kein Interesse an männlichen Nachkommen haben können“, sagt er. Immerhin könnten sie bis zu zehn Jahre in der Position eines Königs das Leben genießen. „Warum sollten die sich selbst Konkurrenz in den Bau holen?“
Hildebrandts Hypothese: Die männlichen Tiere sorgen dafür, dass mehr Weibchen als Männchen geboren werden. Wie beim Menschen und anderen Säugetieren vererbt das Muttertier stets ein X-Chromosom. Über das Geschlecht des Babys entscheidet also das Spermium. Trägt es ein Y-Chromosom, entsteht ein Männchen, hat es ein X-Chromosom, ein Weibchen. Theoretisch wäre es denkbar, dass die Männchen das Geschlecht der Neugeborenen beeinflussen.
Tatsächlich gibt es zahlreiche Hinweise, dass Tiere die Geschlechterverteilung ihres Nachwuchses verschieben können. Den Seychellen-Rohrsänger zum Beispiel. Bei diesem kleinen Singvogel helfen die Töchter dabei, späteren Nachwuchs großzuziehen, männliche Nachfahren hingegen schwärmen aus. Forscher haben festgestellt, dass in einem Territorium, in dem es viele Insekten, also genügend Nahrung gibt, hauptsächlich Weibchen zur Welt kommen. Denn dort ist eine Nesthilfe von Vorteil. In einem nahrungsarmen Territorium aber wären Weibchen nur eine Last und es kommen hauptsächlich Männchen zur Welt, die das Territorium verlassen und so keine Konkurrenz bedeuten. Von 90 Prozent weiblich bis 80 Prozent männlich kann das Geschlechterverhältnis beim Seychellen-Rohrsänger variieren.
2008 veröffentlichte das Team um Hildebrandt eine Studie, nach der auch bei Elefanten eine Geschlechterverschiebung zu beobachten ist. In Gefangenschaft bringen sie hauptsächlich männlichen Nachwuchs zur Welt. Woran das liegt, weiß keiner. „Sogar beim Menschen gibt es Hinweise auf solche Verschiebungen“, sagt Hildebrandt. So habe man festgestellt, dass die Kinder von Jetpiloten viel häufiger Frauen seien, als statistisch zu erwarten. „Vielleicht ist es in bestimmten Lebenslagen aus evolutionärer Sicht sinnvoll, mehr Frauen zur Welt zu bringen.“ Denn um viele Nachkommen zu haben, seien vor allem Weibchen nötig. Regulieren Säugetiere also das Geschlecht der Nachkommen je nach Umweltsituation?
Bisher sei das nur eine Hypothese, wiegelt Hildebrandt ab. „Möglicherweise bringen die Väter männliche Nachkommen auch um.“ In der Kolonie habe es zunächst elf Nacktmullbabys gegeben, aber nur vier hätten überlebt. „Die Bundesregierung fördert uns, aber sie nennt das ,risikoreiche Forschung’“, sagt Hildebrandt. Das heißt: Die These ist gewagt, aber auch interessant genug, um erforscht zu werden. „Wir wollen beweisen, dass die Männchen mehr Spermien mit X-Chromosom produzieren.“
Joseph Saragusty, lilafarbenes T-Shirt, wilde graue Haare und langer Bart, versucht genau das zu zeigen. Der israelische Forscher ist seit einem Jahr am Institut für Zoo- und Wildtierforschung und will dem Fortpflanzungsgeheimnis der Nacktmullmännchen auf die Spur kommen. Dazu versucht er in den Spermien Abschnitte auf dem X-Chromosom oder dem Y-Chromosom zu färben. Die „männlichen“ Spermien leuchten dann grün, die „weiblichen“ orange-rot. „Dann können wir zählen, ob tatsächlich mehr Spermien ein Y-Chromosom tragen.“ Bisher ist das aber nicht gelungen. „Man muss Moleküle finden, die nur eines der Geschlechtschromosomen erkennen“, erklärt Saragusty. Dazu wisse man aber zu wenig über Nacktmull-Gene.
Die Wissenschaftler brauchen vor allem Spermien. Und die sind gar nicht so leicht zu bekommen. „Bei den Nacktmullen versuchen wir, ein Nervengeflecht in der Nähe der Prostata zu stimulieren“, sagt Hildebrandt. „Das funktioniert noch nicht so, wie wir uns das wünschen.“
In anderen Versuchsreihen läuft es schon besser. Hildebrandt und Saragusty untersuchen nicht nur die Spermien von Nacktmullen, sondern auch von Elefanten und anderen Tieren. Die Hälfte der Zeit reisen die Forscher um die Welt und sammeln Spermien. „Übermorgen müssen wir schon wieder nach Dänemark, um das Ejakulat von Zwergnilpferden zu sammeln“, sagt Hildebrandt. „Das kann außer uns keiner.“
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