Arzneimittel: Heilloser Handel
Kriminelle fälschen nicht nur Potenzpillen, sondern auch lebenswichtige Arzneimittel. Über das Netz gelangen die oft wirkungslosen oder gefährlichen Medikamente auch nach Deutschland. Experten kritisieren, dass die Behörden nur halbherzig reagieren.
Die 28-jährige Spanierin reiste oft ohne Malariaprophylaxe nach Guinea. Wenn sie krank wurde, ging sie in Afrika zum Arzt und kaufte vor Ort die empfohlenen Tabletten. Normalerweise war der Spuk nach drei Tagen vorbei. Dieses Mal jedoch ließen Fieber, Krämpfe und Schmerzen nicht nach. Sie flog nach Hause. Im Krankenhaus stellte sich heraus, warum es ihr so miserabel ging: Ihre Malariamedikamente aus der Dritten Welt waren nutzlos, sie enthielten keinerlei Wirkstoff.
Das Beispiel aus der medizinischen Fachzeitschrift „Lancet“ ist kein Einzelfall. Im vergangenen Sommer starb ein Mädchen im Missionskrankenhaus Vanga im Westen Kongos trotz Behandlung an Malaria. Eine Laboranalyse ergab, dass das Krankenhaus auf Fälschungen hereingefallen war. Vor anderthalb Jahren fand „Ärzte ohne Grenzen“ in Kenia unter seinen Medikamenten gegen HIV ebenfalls gefälschte Präparate – obwohl die Hilfsorganisation bei einem Großhändler bestellt hatte, der ein Zertifikat der kenianischen Gesundheitsbehörde vorweisen konnte. Und in Pakistan verteilte im Januar 2012 ein Krankenhaus kostenlos Bluthochdruckmittel an die Armen und vergiftete versehentlich mehr als 100 von ihnen. In den gefälschten Tabletten war eine Überdosis Pyrimethamin, ein Mittel gegen Parasiten.
Begonnen hat der heillose Handel vor 15 Jahren. Damals machten das Internet und das begehrte Potenzpräparat Viagra den Medikamentenmarkt für das organisierte Verbrechen interessant. Bis heute werden für ein Kilo täuschend echt aussehender blauer Pillen auf dem Schwarzmarkt etwa 90 000 Euro gezahlt, 40 000 Euro mehr als für ein Kilo Heroin.
Längst werden nicht mehr nur Potenzpillen, Dopingmittel oder Schlankheitspräparate gefälscht. 2012 fanden Polizei und Zollbehörden in 106 Ländern 60 nachgemachte Pfizer-Medikamente, sagt John Clark. Er leitet bei Pfizer ein globales Team von Sicherheitsexperten, die vorher zum Beispiel beim FBI, bei der Polizei oder beim Zoll gearbeitet haben und nun für die Firma ermitteln. Es sei egal, ob Medikamente teuer oder billig seien, neu oder alt, sagt Clark: „Fälscher bieten alles an, was die Patienten wollen.“
Die Kriminellen machen vor lebenswichtiger Arznei nicht halt, darunter Mittel gegen Krebs, Malaria, HIV, Tuberkulose, Herzkrankheiten, Grippe. Selbst wenn die Fälschungen im besten Fall nur Kreide enthalten, können sie Leben kosten: Weil der Krebs weiterwuchert, weil Viren oder Bakterien sich ungebremst im Körper vermehren.
Zusammengemischt wird alles, was man sich vorstellen kann: Talkumpuder, bleihaltige Straßenfarbe, Schuhputzmittel, Nickel oder Borsäure; manchmal auch Arsen, das bekannte Nebenwirkungen vorgaukelt, oder Paracetamol, dessen fiebersenkender Effekt die Patienten in trügerischer Sicherheit wiegt.
Fälscher haben ein leichtes Spiel
Beschlagnahmte Ware und Fallstudien werfen nur Schlaglichter. Wie groß der Anteil gefälschter Arzneimittel auf dem Weltmarkt ist, weiß niemand. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass er in Entwicklungs- und Schwellenländern bei mehr als 30 Prozent liegt. Dort, aber auch durch Internethandel, machten die Fälscher vermutlich knapp 60 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr.
2006 tat sich Paul Newton, der im laotischen Vientiane eine Forschungskooperation für tropische Medizin von Wellcome Trust, Mahosot-Krankenhaus und Universität Oxford leitet, mit Medizinern, Polizisten und Chemikern in Südostasien zusammen. Für eine Studie unter der Federführung der Interpol kauften sie 391 Mal Malariamittel von legalen Händlern vor Ort. Fast 50 Prozent der Tabletten erwiesen sich als Fälschungen. Entweder enthielten sie gar keinen Wirkstoff oder er war zu gering dosiert. Oft waren Schmerzmittel, Antibiotika oder auch krebserregende Substanzen beigemischt. „Diese Welle schwappt jetzt nach Afrika“, sagt Newton. „Und auf die Fälschungen folgen bald die Resistenzen, die in einigen Ländern Südostasiens bereits unsere besten Anti-Malaria-Waffen stumpf werden lassen.“ Mit Kollegen baut Newton nun eine Datenbank auf, die gefälschte, minderwertige oder überlagerte Medikamente erfasst. So sind Ärzte und Apotheker zumindest gewarnt.
Die Fälscher haben leichtes Spiel. Ihre Kundschaft ist groß und leichtgläubig, die Strafverfolgung ohne einheitliche Regeln über Ländergrenzen hinweg schwierig. Ein Drittel der WHO-Mitgliedsstaaten hat keine oder keine effektive Arzneimittelkontrolle. „Diese Leute müssen sich nicht so gut organisieren wie etwa Drogenkartelle“, sagt Clark. Das macht den Einstieg leicht. Manche fangen mit einer alten, ersteigerten Pillenpresse an und finden über das Netz Vertriebspartner. Oder sie starten selbst eine Internetapotheke.
Systematisch nutzen sie Freihandelszonen und verworrene Lieferketten, um ihre Spuren zu verwischen und durch die neuen Absender für westliche Kunden seriös zu wirken. Eine gefälschte Variante des Krebsmittels Avastin von Roche, das 2012 und 2013 in amerikanische Arztpraxen gelangt ist, hatte eine Odyssee durch die Karibik, Großbritannien, Dänemark, Schweiz, Ägypten und Syrien hinter sich (siehe Grafik). Wo es hergestellt wurde, ist unbekannt.
Vermutlich stammt es aus China. Laut Weltzollorganisation werden dort etwa 60 Prozent der weltweit beschlagnahmten gefälschten Medikamente und Medizinprodukte hergestellt. Über Hongkong werden sie zum Beispiel in die Freihandelszonen im Nahen Osten verschifft. Von dort aus geht es in alle Welt. „Riesige Freihandelszonen wie in Dubai kann man extrem schwer überwachen“, sagt Clark. „Dort werden Container getauscht, Siegel aufgebrochen. Das ist eine Brutstätte für kriminelle Machenschaften.“ Auch sonst fehle oft die rechtliche Handhabe. „Der Zollchef von Kuwait erzählte mir, dass er nichts tun kann. Die Fälschungen sind dort nicht illegal. Wir sollten uns dringend international einigen, was bei Medikamenten gut und schlecht ist.“
Dass das bisher nicht gelungen ist, liegt auch an den Pharmafirmen, bemängelt Amir Attaran, Jurist an der Universität von Ottawa. Zwar wollten sowohl die Industrie als auch die Staatengemeinschaft und Nichtregierungsorganisationen jedem einen zuverlässigen Zugang zu sicheren Arzneimitteln ermöglichen. Bisher sei die Diskussion aber stets in die Grabenkämpfe von Patentfragen und Preispolitik abgerutscht.
Streitpunkt sind die Generika. In Ländern wie Indien werden viele dieser günstigen Nachahmerpräparate produziert. Sie kommen den Armen zugute und sind nach nationalem Recht legal. Erst kürzlich unterlag Novartis dort bei einem jahrelangen Rechtsstreit um ihr Krebsmittel Glivec. Dritt- und Schwellenländer befürchten, dass solche Generika international als „Fälschungen“ geächtet werden.
In Deutschland gelangen nur wenige Fälschungen in die Apotheken
Im Kampf gegen gefälschte Medikamente sollte deshalb das Patentrecht außen vor bleiben, meinen Attaran und andere Experten. Entscheidend für die Patienten sei, ob ihre Medikamente nach den Regeln der Kunst hergestellt wurden. Entsprechen sie aus Unwissen, Geldmangel oder Schlamperei nicht den üblichen Qualitätsstandards und können deshalb zum Beispiel nicht genau dosiert werden, so gelten sie lediglich als „substandard“. Kommt absichtliche Täuschung oder Fälschung ins Spiel, wird es dagegen kriminell. Gegen beides helfe eine funktionierende Arzneimittelaufsicht, die mit Zoll, Polizei und Ärzten zusammenarbeite, sagt Attaran. Die Strafen für Fälscher und für nachlässige, aber ehrliche Unternehmer sollten sich unterscheiden.
Solche Definitionen sind noch immer kein Konsens, und so gibt es auch kein internationales Abkommen – sei es nun unter dem Dach der WHO oder der Vereinten Nationen. Dafür hat Interpol im März ein Programm gegen Kriminalität in der Pharmazie gestartet. 29 der größten Pharmafirmen unterstützen es in den ersten drei Jahren mit 4,5 Millionen Euro. Mit dem Geld sollen unter anderem lokale Ermittler trainiert und auf eine internationale Zusammenarbeit vorbereitet werden. Die Industrie versprach, die Erkenntnisse ihrer eigenen Sicherheitsabteilungen freizügiger mit Interpol zu teilen.
In Deutschland ist die legale Vertriebskette sehr sicher, in zwölf Jahren zählte das Bundeskriminalamt nur 38 Fälle, in denen Fälschungen in hiesige Apotheken gelangt waren. „Etwas wirklich Gefährliches wurde bei uns noch nicht aufgedeckt“, sagt Ulrike Holzgrabe, die den Lehrstuhl für pharmazeutische Chemie an der Uni Würzburg leitet.
2011 beschloss die EU außerdem eine Richtlinie, die das Einschleusen von Fälschungen in Apotheken und Krankenhäuser noch schwerer machen soll. Spätestens ab 2017 soll es flächendeckend strengere Kontrollen, eine möglichst lückenlose Überwachung der Produktion und des Vertriebs sowie zweidimensionale Barcodes auf jeder Verpackung geben, die ihren Weg nachvollziehbar machen. Seit Januar 2013 läuft in Deutschland ein entsprechendes Pilotprojekt der Gesellschaft securPharm, in der sich Pharmaverbände, Apotheken und Großhändler zusammengeschlossen haben.
„Alles, was Arzneimittelfälschungen verhindert, ist gut“, sagt Harald Schweim, der Leiter des Lehrstuhls Drug Regulatory Affairs der Uni Bonn. Trotzdem wirke die EU-Richtlinie halbherzig. „Unser Problem ist der Internethandel!“ Wer im Netz Medikamente bestellt, spiele mit seiner Gesundheit Roulette und könne genauso gut einzelne Pillen bei einem fliegenden Händler in der Dritten Welt kaufen. Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass mindestens die Hälfte gefälscht ist. Trotzdem seien die deutschen Verbraucher erschreckend sorglos, sagt Schweim.
Dopingmittel aus dem Internet sind begehrt
Um welche Mengen es geht, zeigte die weltweite Operation „Pangea V“ der Interpol Ende September 2012. Allein in Deutschland wurden dabei 530 Briefe und Pakete mit etwa 68 000 gefälschten Tabletten, Kapseln und Ampullen sichergestellt, darunter besonders viele Dopingmittel aus China. Gegen die Betreiber von 459 Webseiten wurden Ermittlungen eingeleitet. 2011 wurden an den EU-Grenzen 27,36 Millionen gefälschte Medikamente beschlagnahmt, darunter Krebsmedikamente und Antibiotika. Naturheilmitteln wurden oft verschreibungspflichtige Substanzen beigemengt.
„Wenn jemand trotz aller Warnungen Dopingmittel im Internet kauft, ist mir relativ gleichgültig, was er damit seinem Körper antut“, sagt Holzgrabe. „Niemand muss wie ein Muskelprotz aussehen. Aber es werden immer mehr normale Medikamente gefälscht. Besonders oft passiert das, wenn ein Präparat knapp wird, wie Tamiflu, als die Vogelgrippe drohte.“
Vor allem ist sie um Menschen in Schwellen- und Drittweltländern besorgt. Dort haben allmählich mehr Menschen Zugang zu Medikamenten, aber sie können weder auf den Märkten noch in Apotheken oder Krankenhäusern darauf vertrauen, dass die Pillen wirksam und sicher sind. Gemeinsam mit Zulassungsbehörden, Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaftlern in Tansania, Ghana und Kamerun entwickelt Holzgrabes Team nun preiswerte Analysegeräte. Anders als die bislang in Entwicklungsländern eingesetzten Minilabs sollen sie nicht nur unterscheiden, ob überhaupt Wirkstoff in einer Tablette enthalten ist, sondern auch dessen Menge bestimmen. Trotzdem sollen sie mit wenigen Lösungsmitteln auskommen und die Einzelteile leicht austauschbar sein. „Wir werden auch einige Laboranten weiterbilden, die das Wissen weitergeben können“, sagt Holzgrabe. Von diesem Kampf gegen Fälschungen profitierten am Ende auch die Industrieländer, sagt Attaran: „Entweder wir helfen den Ländern, ihre Probleme zu lösen. Oder wir schlucken sie irgendwann mit einem Glas Wasser.“
Manch falsche „Arznei“ enthält ein ganz anderes Medikament oder giftige Stoffe wie Arsen. Selbst Pillen ohne jeden Wirkstoff können Menschenleben kosten, wenn sie die richtige Behandlung verhindern oder verzögern.
Medikamente zu fälschen ist ein lukratives Geschäft. Knapp 60 Milliarden Euro Umsatz würden damit jedes Jahr erzielt, schätzt die Weltgesundheitsorganisation.
Unter dem Deckmantel des Kampfes gegen „Fälschungen“ könnten Pharmafirmen auch günstige Generika kriminalisieren, fürchten ärmere Länder. Das blockiert das Aushandeln internationaler Abkommen.
Jana Schlütter
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