Google Doodle: Hannah Arendt, verehrt und verdammt
Die Publizistin und Politiktheoretikerin Hannah Arendt wäre heute 108 Jahre alt geworden. Google ehrt die Querdenkerin mit einem Doodle.
Sie war mit Heidegger im Bett, gehörte zu den gefragtesten Denkerinnen ihrer Zeit und wurde als Jüdin und Freiheitskämpferin von den Nazis verachtet. Bekannt wurde Hannah Arendt durch ihre Theorie zur totalen Herrschaft und ihr politisches Konzept der Pluralität. Das Lebenswerk der politischen Theoretikerin ehrt der Internet-Gigant Google heute mit einem Google Doodle.
Hannah Arendt gerät in die Kritik: Mit ihrer Eichmann-Reportage soll sie den Holocaust verharmlost haben
Zu ihren populärsten Werken gehört die kontrovers diskutierte Reportage "Eichmann in Jerusalem - Ein Bericht von der Banalität des Bösen", die 1953 erschien. Die Reportage über den "erschreckend normalen" Menschen Adolf Eichmann, der den "Verwaltungsmassenmord" unter Hitler an Millionen von Juden vorangetrieben hatte, löste ein Beben aus, von dem Verleger heute bisweilen träumen. An der Autorenwahl lag es nicht. Hannah Arendt war längst eine gefragte Denkerin. Spätestens seit ihrem Buch über die „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951) zweifelte niemand mehr an ihrer Qualifikation. Ihre Gedanken zu dem Prozess, der 1961 so viel Aufsehen erregt hatte, wurden neugierig erwartet. Was geschah, zeichnet der Film „Hannah Arendt“ von Margarethe von Trotta einfühlsam nach: Das Buch flog seiner Autorin um die Ohren. Kein Vorwurf, den sie nicht zu hören bekam: Dumm sei das Buch und schlecht recherchiert, die Autorin arrogant und überschätzt, eine ehrgeizige Philosophin, vor lauter Theorien im Kopf blind für die Wirklichkeit.
Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus über den Prozess gegen Adolf Eichmann, Geschlechterrollen und politisches Denken und Handeln
Vor allem zwei Thesen riefen Widerspruch hervor: die Charakterisierung Adolf Eichmanns und die Bewertung der Rolle einiger jüdischer Gemeindevorsteher bei der Organisation der Judenverfolgung.Hinterher will es ja immer keiner gewesen sein, aber das meiste, was man Hannah Arendt bis heute vorwirft, hatten andere ohne viel Aufsehen schon lange vorher gesagt. Prozessbeobachter aus allen Teilen der Welt berichteten 1961 irritiert über den Angeklagten. Eichmann sei „so farblos“, schrieb Alfred Wolfmann für die „Allgemeine Jüdische“, ein „erbärmlicher Waschlappen“. Der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschien er „wie ein ganz gewöhnlicher Kleinbürger“ und Joachim Schwelien staunte für die „Frankfurter Allgemeine“ über die „Sätze von geradezu grotesker Banalität“. „Eine durchschnittliche Type“, nannte er ihn und bezeichnete ihn schon 1961 als „Hanswurst“. Erst als Hannah Arendt das Wort zwei Jahre später wiederholte, galt es als Sakrileg. Den Begriff der „Banalität des Bösen“, für den Eichmann nur der Anlass war, wollte man überhaupt nicht diskutieren.
Auch die Rolle der sogenannten Judenräte sorgte schon seit Jahren für Debatten. Eichmann hatte in den jüdischen Gemeinden Männer zur Mitarbeit genötigt. Aus harmlosen Hilfsdiensten wurde Mitwirkung bei Vertreibung und Deportation. Eichmann wählte Menschen, deren Verantwortungsbewusstsein sie besonders anfällig für ein Handeln machte, das einer regelrechten Kollaboration zum Verwechseln ähnlich sah. Macht korrumpiert sogar noch die Ohnmächtigen. Bis zum tödlichen Ende hielten viele Eichmann für das geringere Übel, nur weil er nicht selber zuschlug. Rudolf Kasztner, der für ein zionistisches Hilfskomitee mit Eichmann über die Rettung von Juden in Ungarn verhandeln musste, ließ sich zu der Hoffnung verleiten, man könne das Massenmorden durch Reden verhindern. Eben dieser Mann geriet 1957 in Israel unter Beschuss, und zwar ganz wörtlich: Nachdem Richter Benjamin Halevy ihm in einem Prozess vorgeworfen hatte, die „Hand dem Satan gereicht“ zu haben, wurde Kasztner auf offener Straße erschossen.
Im Eichmann-Prozess brach das Unverständnis erneut aus. Gerade weil Eichmann so farblos wirkte, unterschätzten viele seine gefährliche Manipulationskraft.
"Es gibt Leute, die nehmen mir eine Sache übel: Nämlich, dass ich noch lachen kann"
1961 berichteten die Prozessbeobachter fassungslos, dass ehemalige Judenräte im Zeugenstand aus dem Publikum als Feiglinge und Verräter beschimpft und beleidigt wurden. Die Rolle der Judenräte wurde schon lange vor Hannah Arendt kontrovers diskutiert. Mehr noch, sie konnte sich bei diesem Thema auf die gründliche Forschung von Raul Hilberg berufen. Der Vorwurf, zu hart über die Judenräte geurteilt zu haben, traf dennoch zuerst sie.
Was also war es wirklich, das so viele Leser gegen Hannah Arendt aufbrachte? Nein, die Heidegger-Geschichte war es nicht. Dass Hannah Arendt mit ihrem Lehrer im Bett war, der später ein heikles Verhältnis mit den Nazis hatte, wissen wir erst seit 1982.
„Es gibt Leute“, so Hannah Arendt 1964 im Fernsehgespräch mit Günter Gaus, „die nehmen mir eine Sache übel: Nämlich, dass ich noch lachen kann.“ Der Ton ihres Buches sei das Problem. „Der Ton ist weitgehend ironisch, natürlich.“ Und sie setzte hinzu, warum das so natürlich ist: „Der Ton ist in diesem Falle wirklich der Mensch.“ Das Lachen war wie die intellektuelle Schärfe Hannah Arendts Mittel im Umgang mit dem Grauen. Die Urteilskraft braucht notwendig Distanz.
Dass dieser Wille zur Görenhaftigkeit polarisierte, war ihr bewusst, aber ohne diese Freiheit geht es nicht. Beides gehört zu einer Philosophie der Wehrhaftigkeit. „Denken übertreibt überhaupt immer“, wusste Hannah Arendt, und deshalb kann es auch verletzen. Aber sie wollte denken, auch über Eichmann. Es ist kein Ruhmesblatt für die Zunft der Philosophen, dass außer Hannah Arendt und Karl Jaspers offenbar nur Bertrand Russell in dem Prozess von Jerusalem eine philosophische Aufgabe erkannt hat.
Als Hannah Arendt nach Israel flog, erwartete sie einen Teufel. Eichmann sei „der Schlimmste der ganzen Bande“, schrieb sie einer Freundin. Erst wenn man ihn verstehe, habe man etwas ganz Wesentliches über den Nationalsozialismus, ja, über Moral begriffen. Der Eichmann in Jerusalem war dann aber ganz anders. Dieser fahrige Stammler im Glaskasten sollte diese Verbrechen zu verantworten haben?
Echte Philosophen haben keine Angst vor Erfahrungen, die nicht zu ihren Erwartungen passen. Im Gegenteil, Philosophie beginnt genau hier, beim Zweifel an den eigenen Begriffen. Hannah Arendt kam mit einem klaren Begriff des Bösen nach Jerusalem. Sie ging mit der Erkenntnis, dass dieser Begriff nicht ausreicht.
Und sie behielt recht. Der klassische Begriff des Bösen reicht nicht aus, um NS-Verbrechen hinreichend zu beschreiben. Weder Eichmann noch seine Mitarbeiter waren Bösewichte aus Shakespeare-Dramen, keine selbst erklärten Unmoralisten oder Mörder aus niederen Beweggründen. Eichmann war kein genialischer Bösewicht, er besitzt keine negative Größe und nicht einmal den Reiz von Batmans Joker.
Es gibt, das hat Hannah Arendt erkannt, ein Böses, das aus der Gleichgültigkeit, aus Gedankenlosigkeit entsteht und deshalb keine Tiefe hat. Jeder von uns kennt die Banalität des Bösen, weil wir alle uns schon bei unbedachtem Handeln erwischt haben. Wir wissen in der Zwischenzeit aus wiederentdeckten Aufzeichnungen, dass Eichmann gezielt Männer in sein Referat geholt hatte, die er seine „bürokratischen Bremsen“ nannte, Menschen also, die bereit waren zu funktionieren, solange es der Karriere nützte. Er selbst gehörte nicht dazu.
Auch Eichmanns Kritiker haben die Bedeutung der Ideologie lange unterschätzt. Eichmann in Jerusalem war eine Rolle, die auch deshalb erschreckend überzeugend wirkte, weil er so genau wusste, wie ein gedankenloses Rädchen im Getriebe wirkt. Eichmann war nicht der Prototyp der Banalität des Bösen, er hatte sie selber instrumentalisiert. Man wird die Effizienz des nationalsozialistischen Mordprojekts nicht verstehen, ohne den Anteil zu begreifen, den Verwaltung und Bürokratie an diesen Verbrechen haben. Auch wenn Eichmann das falsche Beispiel für Hannah Arendts Begriff war, es gibt keinen Schritt hinter ihre Erkenntnis zurück. Weder Verehrung noch Verdammung befreien uns von der Aufgabe, im Dialog mit Hannah Arendt weiterzudenken.
Aber hätte sie nicht sehen müssen, dass ein von seinem Tun überzeugter Judenvernichter vor ihr saß? Dafür hätten doch, lautet der Vorwurf noch heute, genug Dokumente vorgelegen. Die israelischen Ermittlungsbehörden häuften ganze Zimmer voller Akten an. Hannah Arendt nahm sich fast zwei Jahre, all das zu lesen. Die entscheidenden Dokumente zu Eichmanns Denken kannte sie nicht. Eichmann vor Jerusalem mitsamt seiner antisemitischen Grundüberzeugung, das existierte Anfang der sechziger Jahre allenfalls als Gerücht oder in Form von Papieren, die sogar das Gericht als Beweismittel zum größten Teil abwies.
Und noch aus einem anderen Grund konnte Hannah Arendt nicht alles studieren, was sie gern studiert hätte. Bis heute sind Akten gesperrt. Das Bundeskanzleramt hat erst im Mai 2013 zugegeben, was Hannah Arendt schon 1963 vermutet hat: dass die damalige Regierung sogar Druck auf die Verteidigung Eichmanns ausübte, um den Namen von Adenauers allzu rechter Hand Hans Globke aus dem Prozess herauszuhalten. Geht es nach der heutigen Regierung, sollen die BND-Akten zu dieser „Operation Gleisdreieck“ dennoch unzugänglich bleiben.
Das psychologische Gutachten, das Shlomo Kulscár 1961 über Eichmann anfertigte und das sich heute im Israelischen Staatsarchiv befindet, hätte Arendt auch gern gelesen. Sie hörte nur Gerüchte über die Psychologen: Er sei „,normal’ – ,normaler jedenfalls, als ich es bin, nachdem ich ihn untersucht habe’“, soll einer von ihnen gesagt haben.“ Viel klüger sind wir bis heute nicht. Das Gutachten ist nämlich noch bis 2031 gesperrt, wir müssen uns mit einer nachträglichen Kurzfassung begnügen.
Dass ein derartiger Umgang mit Informationen schon zu Hannah Arendts Zeiten vor allem Eichmanns eigener Legende nützte und bis heute kruden Verschwörungstheorien zuarbeitet, scheint die Diskussion weniger zu beunruhigen als die Angst vor unserem Urteil. Die Geschichte des „Phänomens Eichmann“ ist immer noch eine Geschichte eigentümlicher Allianzen, liefert aber leider auch den Nachweis, dass derjenige, der menschliches Handeln begreifen will, tatsächlich nicht ohne den Begriff der Banalität des Bösen auskommt. Deshalb sollte man sich davor hüten, den zeitgenössischen Prozessbeobachtern vorzuwerfen, sie hätten damals schon besser wissen müssen, was wir heute noch nicht wissen dürfen.
Hannah Arendts großer Lehrer Karl Jaspers pflegte zu warnen: „Die geläufigen Meinungen erweisen sich zumeist als Ausdruck des Bedürfnisses nicht nach Wahrheit, sondern nach einem Halt.“ Denken ist kein Königsweg zum Glück, sondern oft genug der Blick in den Abgrund. Die Entdeckung der Banalität des Bösen ist eine unbequeme Wahrheit, die den, der nicht Hannah Arendts Mut zum „Denken ohne Geländer“ aufbringt, noch immer schwindeln macht.
Barbara Stangneth ist Historikerin und Philosophin. Für ihr Buch „Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders“ (2011) erhielt sie den NDR Kultur Sachbuchpreis. Zur Zeit arbeitet sie an einer historisch-kritischen Ausgabe von Arendts „Eichmann in Jerusalem“ für den Piper-Verlag.
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