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Studierende bei einem Orientierungsspiel an der Freien Universität Berlin.
© Georg Moritz

Studienanfänger in Berlin: Habt Spaß, der Druck kommt früh genug

Wie tickt die Generation von Studierenden, für die jetzt die Uni beginnt? Sie ist leistungsorientiert und pragmatisch. Aber darunter darf der Spaß nicht leiden. Ein Rundgang zum Semesterstart.

„Schauen Sie mal nach links und rechts zu ihren Sitznachbarn!“, sagt der Dozent im voll besetzten Hörsaal einer technischen Universität. „Rein rechnerisch werden Sie die beiden Kommilitonen bei Ihrem Diplom nicht wiedersehen.“ „Abwarten“, murmelt Momo. Der junge Mann mit dem Pferdeschwanz ist in dem Film „13 Semester“ aus einem Dorf in die Großstadt gezogen. Er freut sich auf sein Studium. Er will das schaffen.

So wie Robert, dessen erster Tag in einem Hörsaal der Freien Universität Berlin (FU) ausklingt. Die Einführungswoche beginnt gleich mit der Immatrikulationsfeier – und großen Worten: „Willkommen in unserer akademischen Gemeinschaft“, sagt der Dekan. „Sie mag dörflich wirken, ist aber nicht provinziell. Wir haben den Anspruch, global mitzuspielen.“

Robert, 26, hat erst einmal andere Ansprüche. Der Psychologiestudent hat sich um ein Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung beworben und Bafög beantragt. Beides, zur Sicherheit. Seine Mutter kann ihm kein Geld geben. Sie lebt von Hartz IV, kümmert sich um Roberts älteren Bruder. Der ist behindert und pflegebedürftig. Robert könnte das Stipendium gut gebrauchen. Seine Chancen sind so gut wie nie: 48 Prozent der 2012 neu aufgenommenen Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung sind wie Robert die ersten Studenten in ihrer Familie.

Arbeiterkinder mit Stipendium - immer noch die Ausnahme

Robert wäre aber immer noch eine Ausnahme unter den Geförderten. 2012 erhielten nach Angaben der Sozialerhebung des deutschen Studentenwerks nur 2,8 Prozent der studierenden Arbeiterkinder ein Stipendium, aber immerhin 5,8 Prozent der Akademikerkinder. Auch Ausländer, die dauerhaft in Deutschland studieren, sind schwach unter den Stipendiaten vertreten.

Victoria hat es geschafft. Sie wird vom Evangelischen Studienwerk gefördert und stammt aus Moldawien. Dort, sagt sie, „sieht es aus wie in der Sowjetunion“. Grau in grau und korrupt: „Für eine Eins in der Universität musst du bezahlen.“ Lieber lernt sie, samstagabends um neun im Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität (HU). Drei Klausuren liegen vor ihr, in Wirtschafts- und Sozialgeschichte, sie sagt: „Zu Hause kann ich nicht studieren. Mein Tisch ist zu klein, die Ablenkung zu groß.“ Kochen, lesen, malen: Victoria fällt immer etwas ein. Doch die Bibliothek zwingt zur Konzentration, die Regeln, die Ruhe, das gleißende Licht.

Statt Party samstagabends in die Bibliothek

Im Grimm-Zentrum sitzen Studierende in Reih und Glied. Sie starren auf Bildschirme und Bücher, kaum einer wirft einen Blick durch die Fenster. Hoch sind sie, schmal, sie sehen aus wie die Schießscharten einer Trutzburg. Touristen flanieren vor dem Gebäude, Gegröle auf Englisch, doch in der Denkfabrik bleibt es still: 1350 Arbeitsplätze auf acht Etagen, 20 296 Quadratmeter Nutzfläche, das Grimm-Zentrum ist ein Hort der Effizienz, an dem nur zwei Größen gelten: Seiten pro Stunde, gelesen oder geschrieben. Und am Ende: die Note.

Wenn sie gut ist, wird Victoria feiern. Freuen werden sich auch ihre Eltern. Die haben Victoria Geld geschickt, solange sie kein Stipendium hatte – „obwohl die beiden in Moldawien weniger verdienen als ich mit meinem Teilzeitjob als Programmverkäuferin in der Philharmonie.“

Sie suchen Fehler nicht im System, sondern bei sich selbst

Auch Robert sagt: „Meine Mutter hat immer unterstützt, was ich mache“: Ausbildung, Abitur auf dem zweiten Bildungsweg, Viertbester seines Jahrgangs, jetzt das Studium der Psychologie an der FU. „In Zeiten hoher Anforderungen in Studium, Schule und Ausbildung wird die Herkunftsfamilie zu einem sicheren sozialen Heimathafen“, bestätigt die Shell-Jugendstudie. Mehr als 90 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen hätten ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern. Es sei eine „pragmatische Generation“, aufstiegs- und leistungsorientiert, ehrgeizig und zäh. Sekundärtugenden statt Revolte, ’68 war gestern.

„Die Neigung, persönliche Probleme gesellschaftskritisch zu hinterfragen, hat abgenommen“, sagt Reinhard Franke und beugt sich vor. „Zu meiner Zeit haben die Studenten noch protestiert.“ Heute suchten sie Fehler nicht mehr im System – sondern bei sich selbst. Was besser ist? Franke will das nicht bewerten. Er arbeitet als Psychologe in der Studienberatung der Freien Universität. Ihm geht es um den Einzelnen, der kommt und Hilfe sucht. Wer Franke findet, trifft einen 63 Jahre alten Mann mit Lachfalten und Basketballschuhen, buschigen Brauen und wachen Augen. Ihm fällt auf: „Häufiger als früher kommen Studenten in den ersten Semestern.“ Franke blickt aus dem Fenster, vor der Dahlemer Villa fallen die ersten gelben Blätter von den Bäumen. „Noch vor Weihnachten werden die ersten Studienanfänger kommen. Weil ihr Studium nicht so läuft wie geplant.“

Die Bachelor-Note muss gut sein - sonst gibt es keinen Masterplatz in Berlin

„Im Bachelor hast du nur drei Jahre Zeit“, sagt Sabrina, die „Erstis“ wie Robert als Mentorin an der Freien Universität den Weg zum erfolgreichen Studium weisen will. „Viele Fehler kannst du dir nicht erlauben. Sonst kannst du den Master in Berlin vergessen.“

Wer in der Hauptstadt bleiben will, braucht gute Noten. Die Konkurrenz um die Masterplätze ist hart: 836 Bachelorstudierende bewarben sich zu diesem Wintersemester auf die 95 Master-Plätze am Institut für Psychologie der FU. Universitätsweit kamen 8400 Interessenten auf 2050 Plätze. Humboldt- und Technische Universität melden ähnliche Zahlen.

Dranbleiben: Der Druck ist für viele eine Erleichterung

Einfach mal drauflosstudieren wie Momo in dem Film „13 Semester“? Für Erstsemester wie Robert ist das immer öfter keine Option. Denn schon die Seminarnoten des ersten Semesters beeinflussen die Bachelor-Abschlussnote. Und die entscheidet über den Master-Platz. Der Druck kommt früher: Für manche Studierende Grund zur Klage. Für andere eine Erleichterung.

Weniger Depressionen verzeichnen die Psychologischen Berater an der FU – und begründen die Abnahme mit dem „Wegfall der Langzeitstudierenden“. Diese hätten oft den Bezug zum Studium verloren und fühlten sich als Verlierer.

Wie Momo, der sein Studium im Freibad verdöst und nach zwei gescheiterten Examensversuchen eine Lebensbeichte ablegt: „Ich wollte studieren. Ganz ohne Druck. Und schwupps, bin ich auf der Autobahn. Abbiegen unmöglich. Alle rasen an mir vorbei. Und ich steh im Stau.“

Wer im Stau steht, merkt das im Bachelor früher. Durch Anwesenheits- und Leistungskontrollen. Glauben die Psychologen an der Freien Universität.

Das bestreitet Alexander, der sein Studium der Politikwissenschaft abgebrochen hat: „Nur weil wir wenig Anwesenheitspflicht hatten, hab’ ich gemerkt: Ich geh’ nicht hin. Ich hab’ kein Interesse.“ Stattdessen studiert der 20-Jährige jetzt Informatik.

Am Anfang wird alles genau erklärt, später ist dafür keine Zeit

Wie viel Freiheit brauchen Studierende? Wie viel halten sie aus? Marvin Franke hat sich diese Fragen gestellt. Der Student arbeitet als Hilfskraft am Institut für Psychologie der FU. Sein Job: Robert und den anderen Erstsemestern den Einstieg ins Studium zu erleichtern. Mit Zuckertüten, Stundenplan und Tipps zum korrekten Falten des Studierendenausweises: „Klingt einfacher, als es ist.“

„Klar habe ich mich manchmal gefragt: Muss ich das alles erklären?“ Marvin muss. Was er nicht zu Anfang allen erklärt, fragen viele später in den Sprechstunden. Stress für die Dozenten, Stress für die Studenten.

Dabei haben die schon genug zu tun: 18 Stunden pro Woche verbringt der Durchschnittsstudent nach Angaben der 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks in Seminaren und Vorlesungen, 17 Stunden beim Lernen in der Bibliothek oder zu Hause, 13 Stunden in der Kneipe – beim Kellnern; oder mit anderen Jobs. Nebenher müssen die Studierenden Antworten auf Fragen finden, die Psychologen Entwicklungsaufgaben nennen: Wer bin ich? Wo will ich hin?

Spaßgesellschaft: Als Biene Maja den Campus erkunden

Robert weiß, was er werden will: Kriminalpsychologe. Was er zur Zeit ist, bestimmt Antonia: „Ihr seid alle Moleküle!“, ruft die Spielleiterin der Einführungswoche ihm und den anderen Erstsemestern zu und rudert mit den Armen: „Molle, molle, molle. Und wenn ich pfeife, bleibt ihr stehen!“ Die Erstsemester sollen sich zusammenfinden, zur Erkundungstour durch das Gebäude, Gruppen gegeneinander. Verkleidet als Banane, Biene Maja oder Fantasiegestalt mit rot blinkender Brille und Aluhaube auf dem Kopf, so wie Robert. Es gibt viel zu gewinnen: neue Freunde, nützliche Informationen, Kreativitätspunkte beim Kegeln.

Sie werfen keine Kugel, sondern stellen sich alle in eine Reihe. Einer tippt den anderen an, der lässt sich auf den nächsten fallen, Robert stürzt sich als Letzter auf die Kegel, räumt alles ab und hat nebenbei noch gelernt: Die Philologische Bibliothek der FU und das Grimm-Zentrum der HU sind die einzigen Berliner Bibliotheken, die am Sonntag geöffnet haben.

Im Grimm-Zentrum packt Victoria um 22 Uhr ihre Sachen. Die Bibliothek schließt. Sie wird wiederkommen am nächsten Tag.

Erste Aufgaben: Platz in der Bibliothek und Freunde finden

Was Victoria an der HU geschafft hat, steht Robert und den anderen Erstsemestern an der FU noch bevor: „Sie müssen ihren Platz in der Bibliothek finden, Freunde suchen, Seminararbeiten schreiben“, sagt Antonia. Zurzeit spielt sie noch mit den Erstsemestern, dann wird sie ihnen als Mentorin zur Seite stehen und ab dem dritten Semester heißt es: Jeder für sich.

Sie dürften das schaffen. Seit 2003 sinkt der Anteil an Studierenden, die das Fach wechseln, ihr Studium unterbrechen oder aufgeben, attestiert die Sozialerhebung des deutschen Studentenwerks. Spaßbremsen sind Studierende heute trotzdem nicht: „Leistung ja, aber darunter darf der Lebensgenuss nicht leiden“: So fasst die Shell-Studie das Lebensgefühl der jungen Erwachsenen zusammen. Roberts Stundenplan bringt es so auf den Punkt: Einführung in die Persönlichkeitspsychologie, anschließend Ehrung der Rallye-Sieger und Kneipentour.

Jonas Krumbein

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