Schülerschwund in Deutschland: Grundschulen schließen, Zwergschulen kämpfen
Weil Schüler fehlen und die Kommunen sparen müssen, schließen Grundschulen auf dem Land. Für die Kinder und oft auch für die Eltern bedeutet das lästige Fahrerei. Gegen den Trend stemmen sich die Zwergschulen.
Im Emsland, wo Nerz und Biber einander gute Nacht sagen, dort findet man noch eine dieser Zwergschulen aus dem Bilderbuch. Nur 25 Kinder besuchen die Grundschule Adorf – von Klasse eins bis vier. Ruhig liegt der kleine Ortsteil der Gemeinde Twist zwischen Moorwiesen und Heideflächen, auf den Bauernhöfen spricht man Plattdeutsch. Gesine Kortmann unterrichtet seit über zwanzig Jahren an der kleinen Grundschule. Als sie als Lehrerin im Emsland anfing, teilten sich noch fünfzig Grundschüler die Pulte in den Klassenräumen. Heute ist ihre Schülerschar um die Hälfte geschrumpft. „Wir zittern jedes Jahr ums Überleben“, sagt die Schulleiterin. Fällt die Zahl der Schüler unter 25, könnte dies das Aus für die Grundschule Adorf bedeuten. Doch Gesine Kortmann glaubt an das Potenzial ihrer Zwergschule. „Unsere Schüler schätzen die familiäre Atmosphäre. Wir können individuell auf sie eingehen.“
In den vergangenen Jahren mussten viele Zwergschulen in Deutschland schließen. Abwanderung in die Stadt und niedrige Geburtenraten machen der Schule im Dorf das Überleben schwer. Vielerorts hatten sich wenigstens noch die Grundschulen gehalten, während Mittelschüler und Gymnasiasten schon lange mit Bus und Bahn in die nächste größere Gemeinde oder Stadt unterwegs sind. Doch jetzt ist der Schwund auch im Primarbereich nicht mehr zu übersehen: Vor zehn Jahren gab es knapp 17 000 Grundschulen in Deutschland, heute sind es nur noch 15 700. Dabei gehen knappe Gemeindefinanzen und sinkende Schülerzahlen Hand in Hand: Im Jahr 2002 gingen 3,2 Millionen Kinder in die Grundschule, 2013 nur noch 2,7 Millionen.
Die Schule gehört ins Dorf, aber Eltern arrangieren sich
Besonders dramatisch ist das Grundschulsterben im Osten. Wurden kurz vor der Wende noch mehr als 30 000 Kinder in Sachsen-Anhalt eingeschult, sank die Zahl der sächsischen ABC-Schützen inzwischen auf 16 000 pro Schuljahr. Und weil Kinder, die nicht geboren werden, auch keine Kinder bekommen, wird sich die Zahl noch weiter verringern.
Glaubt man Ilka Hoffmann, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), hat das Schulsterben dramatische Auswirkungen auf die Dorfstruktur: „Die Dörfer werden als Wohnort weniger attraktiv für junge Familien.“ Stirbt die Schule, würden ohnehin strukturschwache Räume weiter an Anziehungskraft verlieren. Denn die Schule gehöre wie der Kaufladen, die Kneipe oder der Hausarzt zu einem lebendigen Gemeinwesen dazu. „Hier ist eine gefährliche Dynamik im Gang“, sagt Hoffmann.
Wissenschaftlich untersucht hat Bilal Barakat, Demograf am Vienna Institute of Demography, das Phänomen. Er kommt zu verblüffenden Ergebnissen: „Dass eine Schulschließung den demografischen Todesstoß für ein Dorf mit sich bringt, konnte noch in keiner Studie bewiesen werden.“ Am Beispiel Sachsens etwa zeigte Barakat, dass Schulschließungen kaum Einfluss auf die Bevölkerungszahl einer Gemeinde haben. Für viele junge Familien sei bei der Wohnortwahl gar nicht entscheidend, ob es vor Ort eine Schule gibt. Sie arrangierten sich damit, ihre Kinder zum Unterricht zu fahren oder in den Schulbus zu setzen.
Lange Busfahrten ermüden die Kinder
Kurze Beine, kurze Wege – das war jahrelang das Credo der Schulplaner. Grundschulen sollten in unmittelbarer Nähe zum Wohnort liegen, für alle Kinder gleichermaßen leicht zu erreichen sein. Weil die Dorfschulen sterben, legen die kurzen Kinderbeine heute aber immer längere Wege zurück. Manche Kinder müssen mehr als eine Stunde lang im Bus über die Dörfer schaukeln. Auch wenn sich die Eltern arrangieren – für Kinder seien die langen Wege oft eine Belastung, sagt Hoffmann. „Sie sind schon müde, wenn sie in der Schule ankommen.“
Schule ist zudem nicht nur eine Bildungsstätte, sie stiftet Identität und schafft Kontakte, für Kinder und Eltern. Das sieht auch Barakat so. „Wenn die Schule schließt, geht oft ein zentraler sozialer Treffpunkt verloren.“ Steht das dorfprägende Schulgebäude leer oder verfällt es gar, drückt das auf die Stimmung im Dorf. In vielen Regionen kämpfen Eltern und Lehrer deshalb gemeinsam um ihre Schulen, damit es erst gar nicht so weit kommt. Ob jahrgangsübergreifendes Lernen, fahrende Klassenzimmer oder pendelnde Lehrer – die Modelle für kleine Schulen sind dabei vielfältig.
Die Igelschule von Silkerode hat alles versucht - und muss vorerst schließen
Zum Beispiel in Silkerode, einer kleinen Gemeinde am Südharz, etwa 40 Kilometer von Göttingen entfernt: Als die staatliche Grundschule im Sommer 2002 schließen wollte, zogen engagierte Bürger bis zum Landratsamt, um zu protestieren. Doch es nützte alles nichts, die Dorfschule machte dicht. Eine Elterninitiative rund um Birgit Dalchow und Rolf Küster entschied damals: „Wenn sie uns die Schule wegnehmen, gründen wir eben selbst eine.“ Eine Bank zur Finanzierung wurde gesucht, ein pädagogisches Konzept geschrieben. Im Herbst 2003 öffnete die freie Igelschule Silkerode für 14 Schulkinder ihre Pforten. Seither wird in der Dorfstraße 50a nach dem Montessori-Konzept ganztägig unterrichtet.
Anfangs sei besonders viel ehrenamtliches Engagement gefragt gewesen, erinnert sich Birgit Dalchow, die dem Trägerverein vorsteht. Denn für die Aufbauphase von privaten Schulen stellt der Staat keinerlei Mittel zur Verfügung. Die Lehrer verzichteten sogar auf einen Teil ihres Lohns, um die Finanzierung der Schule zu sichern. Bis heute organisieren Eltern aus dem Dorf nachmittags kleine Lern- und Projekteinheiten. Einmal in der Woche kommt eine Gärtnerin und erklärt den Kindern Bäume und Blumen. Trotz des Engagements muss die Schule jetzt zumindest vorübergehend schließen: Dalchow und Küster haben vergeblich nach einer geeigneten Lehrkraft gesucht, die die Gründungslehrerin ersetzen könnte. Sie wechselt nach nach zehn Jahren wieder an eine größere Schule. Der Verein will das Gebäude weiterhin mieten und nach den Sommerferien die Suche wiederaufnehmen, um in einem Jahr neu zu starten.
Wie klein eine Schule sein darf, variiert von Land zu Land
Wird eine Zwergschule geschlossen, müssen sich die Schüler nach Alternativen umsehen – und werden mitunter zu Grenzgängern. Als die Grundschule im bayerischen Unterjoch ihre Pforten schloss, pendelten viele Kinder fortan ins nah gelegene österreichische Jungholz, um dort den Unterricht zu besuchen – inklusive Tiroler Lehrplan.
Wie viele Schüler eine Grundschule braucht, um bestehen zu können, beantworten die Ministerien in den Ländern ganz unterschiedlich. 92 Schüler sollten es in Nordrhein-Westfalen sein, 80 in Schleswig-Holstein, 60 in Sachsen-Anhalt, 45 in Brandenburg. Ilka Hoffmann von der GEW argumentiert dagegen, Qualität könne man nicht an der Größe festmachen. Doch auch für sie gibt es eine Mindestgröße. „Wenn die Zahl unter 20 Schüler rutscht, ist die Schule einfach zu klein. Denn für die Kinder sind vielfältige soziale Kontakte wichtig.“
Wie man Unterricht in kleinen Lerngruppen gestalten kann, wird auch an den sieben Inselschulen in Niedersachsen diskutiert. Die Schüler sollen schließlich möglichst lang bei ihren Familien auf der Insel bleiben und nicht schon als Sechsjährige auf ein Internat wechseln müssen.
Videokonferenz mit der Inselschule
Mit einem Videokonferenzsystem haben die ostfriesischen Inselschulen nun eine Möglichkeit gefunden, pädagogische Kompetenz virtuell auf die Inseln zu holen. Mangelfächer wie Physik oder Fremdsprachen, in denen Lehrkräfte knapp sind, werden an der Inselschule Borkum oder bei Bedarf auch auf anderen Inseln per Teleunterricht gehalten. Der Französischlehrer vom Festland wird auf einen Bildschirm in den Klassenraum übertragen, hochempfindliche Kameras und Mikrofone garantieren, dass jeder noch so kleine Flüsterton aus dem Klassenzimmer übertragen wird. Anfangs hätten die Schüler noch Grimassen geschnitten und in die Kamera gewinkt, doch mittlerweile haben sie sich an ihre virtuellen Lehrer gewöhnt, sagt Barbara Glittenberg, pädagogische Leiterin des Projekts.
Petra Palenzatis ist Schulleiterin der School of Distance Learning Niedersachsen (SDLN), wie das Modell getauft wurde. Die Idee für den Fernunterricht holte sie sich aus den USA, wo Lateinlehrer ihre Schüler virtuell unterrichten.
Bei ihrem Projekt geht es nicht darum, Lehrpersonal einzusparen. Eine zusätzliche Lehrkraft ist stets im Klassenzimmer auf der Insel, um Arbeitsblätter auszuteilen und für Ruhe zu sorgen. Stattdessen geht es Palenzatis darum, Krankheitsfälle und Mängelfächer auszugleichen sowie besonders begabte Insulaner zu fördern. Außer Sport könne man theoretisch alle Fächer virtuell unterrichten. „Wir hatten sogar schon eine Musical-AG hier!“ Auch für in Bedrängnis geratene Dorfschulen, die keine Lehrer finden, kann sich Palenzatis das Modell gut vorstellen. Für sie steht fest: In ein paar Jahren werden viel mehr Zwergschulen in ganz Deutschland mit virtuellen Lehrern arbeiten.
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