Klimawandel: Grönlands Eis ist auf dem Rückzug
Dadurch steigt der Meeresspiegel – aber nicht so rasant, wie immer wieder behauptet wird. Das zeigen mehrere aktuelle Untersuchungen.
Bei den sommerlichen Temperaturen wie derzeit kann man sich gut vorstellen, wie die Erderwärmung den Gletschern Grönlands zusetzt. Ihr Schrumpfen trug in jüngster Zeit pro Jahr 0,7 Millimeter zum Anstieg des Meeresspiegels bei. Das ist immerhin ein Viertel des Gesamtanstiegs. Einige Forscher befürchten, durch die globale Erwärmung könne sich der Rückgang des grönländischen Eisschilds weiter beschleunigen und so den Meeresspiegel in Zukunft rasant steigen lassen.
Aktuelle Beobachtungen zeigen in der Tat eine Beschleunigung: Die durchschnittliche Fließgeschwindigkeit der Gletscher sei von 2000 bis 2010 um 30 Prozent gestiegen, berichten Forscher um Twila Moon von der Universität Washington im Fachmagazin „Science“. Allerdings, so schreiben die Wissenschaftler auch, habe sich der Gletscherrückgang längst nicht so stark beschleunigt, wie es in einer vielzitierten „Science“-Studie von Tad Pfeffer im Jahr 2008 angenommen worden war. Pfeffers Team hatte errechnet, allein die Gletscherbeschleunigung auf Grönland könne bis 2100 maximal einen halben Meter zum Meeresspiegelanstieg beitragen. Moons Team kommt auf einen Beitrag von weniger als zehn Zentimetern.
Das Ergebnis ist so wichtig, weil die mögliche Beschleunigung der Gletscher auf Grönland als größter Unsicherheitsfaktor in den Prognosen zum Meeresspiegelanstieg gilt. In diese Modelle geht auch die Schmelze von Gletschern in anderen Teilen der Erde sowie die temperaturbedingte Ausdehnung des Meerwassers ein. In der Summe rechnet der Weltklimarat mit einem Anstieg um bis zu 80 Zentimeter bis 2100 – mehr können es der neuen Untersuchung zufolge kaum werden.
Für ihre Studie haben Moon und Kollegen Satellitendaten von über 200 Eiszungen untersucht. Sie erhielten ein komplexes Bild: Einige Gletscher rutschten mehr als einen Kilometer im Jahr in Richtung Meer, andere stagnierten, was unter anderem durch die Form der Fjorde und das lokale Klima bedingt sei, schreiben die Forscher. Ähnliches schildert eine Gruppe um Ingo Sasgen vom Deutschen Geoforschungszentrum in Potsdam. Aus Satellitendaten und Klimasimulationen errechneten sie regionale Massenbilanzen. Im Süd- und Nordwesten der Insel seien die Schmelze und das Eisbergkalben seit 2002 besonders stark gewesen, berichten sie in den „Earth and Planetary Science Letters“.
Ungeklärt ist aber, ob der Eisverlust im historischen Vergleich eine Ausnahme darstellt. Vor der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden nur sehr wenige grönländische Gletscher vermessen. In dieser Frage hat jetzt ein Fund in einer Zitadelle nahe Kopenhagen Forschern zu wertvollen Hinweisen verholfen. Dort lagerten nämlich Fotos von einer Expedition in den Südosten Grönlands, die der dänische Entdecker und Ethnologe Knud Rasmussen 1932 und 1933 mithilfe eines Wasserflugzeugs unternommen hatte.
Ein Team um Anders Bjørk von der Uni Kopenhagen hat nun aus den alten Luftbildern ermittelt, wie sich die Enden von 132 Gletschern verschoben haben, und das mit aktuellen Messungen verglichen. Ihre Studie in „Nature Geoscience“ zeigt, dass es bereits in den 1930er Jahren einen Rückgang gegeben hat, wenn er auch schwächer war als der aktuelle. Zwischendurch, in den 1960er und 1970er Jahren, stießen die Gletscher im Südosten vor. Dieser wellenförmige Verlauf folgte der Temperatur. Zwischen 1919 und 1932 erwärmte sich die Luft in Grönland um zwei Grad Celsius; nach 1960 kühlte sie sich um zwei Grad ab. Doch seit 1980 ist sie wieder um rund drei Grad gestiegen. Das Auf und Ab der Temperatur wird auf Schwankungen des Islandtiefs zurückgeführt; hinzu kam der langfristige Trend der globalen Erwärmung.
Allzu ungewöhnlich ist der jüngste Eisschwund im historischen Vergleich demnach nicht. Auch die Gruppe um Bjørk schätzt die Folgen für den künftigen Meeresspiegelanstieg als eher moderat ein: Der Rückgang des Eises könne sich nicht extrem beschleunigen, denn Gletscher, die ins Meer münden und deshalb besonders leicht hinabgleiten, würden langsamer werden, sobald kein Eis mehr vor der Küste aufschwimme. Bei Gletschern, die auf dem Land enden, sei ohnehin keine große Beschleunigung zu erwarten. Aufgrund von Unsicherheiten in der Berechnung ist das letzte Wort in dieser Sache aber noch nicht gesprochen. Sven Titz