Physik-Nobelpreis 2013: Gottes Werk und Higgs Teilchen
Der PR-Gag eines Verlegers machte die Arbeit der Physiker Higgs und Englert weltberühmt. Jetzt wurden die beiden mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
Es ist wohl das berühmteste Teilchen der Physik: das Higgs-Boson, der Öffentlichkeit eher unter dem – irreführenden – Begriff „Gottesteilchen“ bekannt. Mit unglaublichem Aufwand haben ihm die Forscher jahrelang nachgestellt, sowohl in den USA am Fermilab als auch am Cern in Europa. Im Juli 2012 meldeten die am Cern beteiligten Wissenschaftler endlich: „Wir haben es!“ Ein halbes Jahrhundert, nachdem Theoretiker die Existenz dieses Teilchens vorausgesagt hatten. Zwei dieser genialen Köpfe, Peter Higgs und François Englert, wurde dafür am gestrigen Dienstag der Physik-Nobelpreis zugesprochen.
Mit ihren Ideen retteten sie damals die Teilchenphysik aus der Sackgasse, in der sie steckte. Immer neue Elementarteilchen wurden in den Fünfziger- und Sechzigerjahren entdeckt. Die Forscher suchten nach einer Theorie, in der jedes Partikel seinen Platz bekam und die zudem die Beziehung dieser Teilchen korrekt beschrieb. Doch es wollte ihnen nicht gelingen. Um die Kräfte zu beschreiben, die in einem Atomkern wirken, hätten den bis dato entwickelten Theorien zufolge die zugehörigen Teilchen keine Masse haben dürfen. Das konnte nicht sein. Denn Teilchen ohne Masse würden allesamt mit Lichtgeschwindigkeit durchs Universum irren. Niemals könnten sich Elementarteilchen zusammenfinden, um Materie zu formen: Sterne, Planeten, Menschen.
Robert Brout wäre der dritte Preisträger gewesen - doch er starb 2011
Es muss also einen Mechanismus geben, der den Teilchen eine Masse verleiht – und sei sie auch noch so winzig. 1964 präsentierten drei junge Physiker ihre Ideen davon, wie das funktionieren könnte. Auf der einen Seite der Brite Peter Higgs, auf der anderen der Belgier François Englert, der mit dem Amerikaner Robert Brout zusammenarbeitete. Letzterer wäre zweifelsohne der dritte Preisträger gewesen, den das Nobelpreis-Komitee gestern ausgerufen hätte. Doch er starb 2011, konnte also auch nicht mehr den Erfolg der Entdeckung erleben.
Was Higgs sowie Englert und Brout unabhängig voneinander erdacht hatten, klang verwegen: Das gesamte Universum sei von einem unsichtbaren Feld durchzogen, das die Elementarteilchen bremst und dabei mit Masse „auflädt“. Wie ein riesiger Honigtopf.
Doch es funktionierte, zumindest in der Theorie. Nach und nach führten Physiker aus aller Welt ihre Erkenntnisse zusammen und entwickelten das Standardmodell der Teilchenphysik. All die Quarks, W-Bosonen und weiteren Partikel, die im Lauf der Zeit noch entdeckt wurden, fügen sich in dem Standardmodell harmonisch zusammen. Wie einzelne Puzzleteile zu einem Bild. Aber es blieb eine Lücke. Jenes Teilchen, dessen Existenz Peter Higgs vor Jahrzehnten vorausgesagt hatte, fehlte.
Nur gewaltige Beschleuniger können das Higgs-Feld irritieren
Das Higgs-Boson ist gewissermaßen ein Bote des gleichnamigen Feldes, das angeblich alles durchzieht. Wird dieses nur heftig genug angeregt, dann sollten derartige Teilchen entstehen, hofften Experimentalphysiker. Dann könnten sie es nachweisen.
So leicht lässt sich das Higgs-Feld aber nicht aus der Ruhe bringen. Dafür sind gewaltige Beschleuniger nötig. Sie jagen Elementarteilchen, etwa Protonen, auf nahezu Lichtgeschwindigkeit und lassen sie dann frontal zusammenstoßen. Mit viel Glück entsteht bei diesen Crashs ab und an ein Higgs und mit noch mehr Glück können es die Forscher anhand seiner Zerfallsprodukte in einem Detektor nachweisen.
Doch dieses Glück hatten sie lange nicht. Über die schwierige Suche verfasste Leon Lederman vor 20 Jahren das Buch „Das gottverdammte Teilchen“. Seinem Verleger hat das angeblich nicht gefallen und aus dem „Goddamn Particle“ wurde „God Particle“. Die Medien griffen die Bezeichnung freudig auf, die meisten Physiker rollten mit den Augen, zuallererst der Atheist Higgs. Nicht wenige fordern sogar, gemäß der Nachnamen der drei Theoretiker vom „BEH-Boson“ zu sprechen. „Es wäre nur fair“, sagt etwa der Karlsruher Physiker Thomas Müller, der führend am CMS-Detektor in Genf beteiligt ist. „Aber im täglichen Umgang würde ich der Einfachheit halber wohl weiter vom Higgs-Teilchen sprechen.“
Der 4. Juli 2012 erlöst Higgs und Englert
Die Jagd nach dem Teilchen hielt an. Am Fermilab gab es zwar immer wieder Hinweise auf das gesuchte Partikel. Doch sie hielten den strengen Kriterien der Physiker nicht stand. Zu groß war die Sorge, einer Falschmeldung aufzusitzen. 2011 wurde dort der Tevatron-Beschleuniger endgültig abgestellt, nun war die Zeit des Large Hadron Colliders (LHC) in Genf gekommen. Nur dieser gewaltige Beschleuniger mit einem 27 Kilometer langen unterirdischen Rundkurs für Elementarteilchen und hausgroßen Detektoren galt als stark genug, das Higgs-Feld anzuregen und das verdammte Teilchen endlich nachzuweisen.
2008, kurz vor der Inbetriebnahme des LHC, besuchte Peter Higgs das Forschungsmonster. Er war tief beeindruckt von den gewaltigen Apparaten, die seine Theorie endlich beweisen sollten. Auf 90 Prozent schätzte er damals die Wahrscheinlichkeit, dass die Maschine binnen Jahresfrist das gesuchte Teilchen findet. Es dauerte dann doch etwas länger. Am 4. Juli 2012 erlösten die mehr als 4000 am Cern tätigen Forscher Higgs und Englert. Der Schlussstein für das Standardmodell war gefunden.
„Es ist beeindruckend, wie gut die LHC-Daten zu dieser Theorie passen“, sagt Hermann Nicolai, vom Potsdamer Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik. Aber die Arbeit gehe weiter. Das Standardmodell könne nur die sichtbare Materie beschreiben, die gerade ein Fünftel aller Materie im All ausmacht. Den Rest könne es nicht erklären, ebensowenig die Gravitation. Nun sind wieder die Theoretiker gefragt.
Ralf Nestler