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Etwas zu dick, aber fit.
© ZB-FUNKREGIO OST

Übergewicht: Gesunde Pfunde

Normalgewicht ade? Menschen mit Übergewicht leben am längsten, gefolgt von leicht Fettsüchtigen. Das ergab eine Auswertung von 100 Studien mit insgesamt knapp drei Millionen Teilnehmern.

Als Katherine Flegal 2005 ihre erste große Untersuchung zum Thema Körpergewicht und Gesundheitsrisiko veröffentlichte, reagierte die Fachwelt verschnupft bis empört. Die Gesundheitswissenschaftlerin von der amerikanischen Seuchenbehörde CDC hatte festgestellt, dass Übergewichtige länger lebten als Normalgewichtige. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte: mehr Pfunde, mehr Gesundheit – natürlich in gewissen Grenzen. Aber eine Studie nach der anderen brachte ähnliche Ergebnisse. Und jetzt hat die Forscherin die umfassendste Übersicht zum Thema vorgelegt, eine Auswertung von 100 Studien mit insgesamt knapp drei Millionen Teilnehmern, abgedruckt im Fachblatt „Jama“. Sie bestätigt Flegals erste Resultate.

Im Zentrum der Debatte steht der Body-Mass-Index, kurz BMI. Dieser Messwert teilt die Menschen in zu leicht, normal und zu schwer ein. Er wird ermittelt, indem das Körpergewicht (in Kilogramm) durch die Körpergröße (in Metern zum Quadrat) geteilt wird. Normal ist demnach ein BMI zwischen 18,5 und 25. Übergewicht besteht bei 25 bis 30, leichte Fettsucht (Adipositas Grad 1) bei 30 bis 35. Von Adipositas Grad 2 spricht man bei einem BMI von 35 bis 40, alles ab 40 ist Grad 3. In Deutschland sind zwei von drei Männern und jede zweite Frau übergewichtig oder fettsüchtig. Normalgewichtige sind in der Minderheit. Gleichzeitig steigt die Lebenserwartung.

In ihrer neuen Studie konzentrierte Flegal sich darauf, den BMI zur Sterblichkeit, also der Mortalität, in Beziehung zu setzen. Natürlich ist jeder Mensch sterblich, doch gibt die statistisch gemessene Mortalität an, wie hoch das prozentuale Sterberisiko in einem gewissen Zeitraum ist. In den von Flegal ausgewerteten Studien handelt es sich in der Regel um Langzeituntersuchungen, von denen manche über Jahrzehnte das Befinden der Teilnehmer und den Anteil der Überlebenden ermittelte.

Wie Katherine Flegal und ihr Team feststellten, war das Sterberisiko der Übergewichtigen sechs Prozent geringer als das der Normalgewichtigen. Im Klartext: Übergewichtige leben am längsten. Bei Fettsüchtigen dagegen war die Sterblichkeit um 18 Prozent höher als bei Normalgewichtigen. Allerdings ändert sich dieses Bild, wenn man die Fettsucht nach Graden aufschlüsselt. Menschen mit leichter Fettsucht (Grad I, BMI bis 35) haben eine um fünf Prozent verringerte Mortalität. Bei Grad 2 und 3 schnellt das Sterberisiko um 29 Prozent nach oben. „Richtig“ Dicke sind unzweifelhaft in Gefahr, das bestreitet auch Flegal nicht.

Bemerkenswert zudem, dass jenseits des 65. Lebensjahres der Überlebensvorteil der Übergewichtigen und leicht Fettsüchtigen deutlich ansteigt (zehn und zwölf Prozent). Das mit den Jahren angesammelte Fettpölsterchen hat offenbar ganz handfeste Vorteile, zumindest, wenn man es nicht übertreibt.

Flegals Befund ist eindeutig. Dennoch reagierten manche Experten ablehnend, offenbar aus Angst, die Studie könnte zur Völlerei verleiten. „Eine schreckliche Botschaft, gerade in diesen Tagen“, sagte Tam Fry, Sprecher des National Obesity Forum (Forum für Fettsucht) Großbritanniens der BBC. „Wir sollten es nicht als erwiesen ansehen, dass man mit dem Sport aufhören und sich mit Schwarzwälder Kirschtorte zu Tode schlemmen kann.“ Besonnener fiel die Kritik des Ernährungswissenschaftlers George Blackburn von der Harvard-Universität aus. „Wir möchten nicht, dass die Leute nun denken, ,Gut, ich kann die Zügel schleifen lassen und an Gewicht zulegen“, sagte Blackburn der „New York Times“. Der BMI sollte nicht der einzige Maßstab für ein gesundes Gewicht sein, gibt Blackburn zu. Für das Ermitteln des Sterberisikos müsse man Blutdruck, Blutfette und Blutzucker berücksichtigen.

Nicht erst seit gestern steht der BMI und seine Einteilung in der Kritik. Er berücksichtigt nicht bedeutsame Gesundheitseinflüsse wie Geschlecht, Hautfarbe, Fitness, Lebensalter, genetische Ausstattung und Körperbau. Und auch nicht das als Risikofaktor geltende Bauchfett, dem man nur durch Messung des Bauchumfangs auf die Schliche kommt. Ein weitere Frage ist, ob eine schematische Einteilung in Fünferschritten, wie sie der BMI vornimmt, sinnvoll ist und einer biologischen Realität entspricht.

BMI-Verteidiger argumentieren, dass dieser zwar für den Einzelnen nur bedingt aussagekräftig ist, aber gut geeignet, um Trends in der Bevölkerung zu messen. Trotzdem erscheint die Einteilung manchem Kritiker willkürlich, zumal Übergewicht in wohlhabenden Ländern schon fast das neue Normalgewicht ist – zumindest in höherem Lebensalter – und ganz offenbar keine negativen Auswirkungen auf die Lebenserwartung hat.

Studien belegen, dass Übergewicht bei chronischen Krankheiten wie Herzleiden, Diabetes, Nierenversagen und höherem Alter die Überlebenschancen erhöht. „Fettsucht-Paradox“ heißt das Phänomen. „Der beste BMI für Menschen mit chronischer Krankheit dürfte zwischen Übergewicht und leichter Fettsucht liegen“, schreiben die US-Mediziner Steven Heymsfield und William Cefalu zu der Flegal-Studie in „Jama“. Selbst Gesunden helfe ein bisschen mehr Körperfett. Es stelle eine Energiereserve für den Krankheitsfall dar, sei ein Polster bei Unfällen und habe womöglich noch mehr heilsame Effekte. Womöglich hat sich die Natur also etwas dabei gedacht, als sie dem Körper ein paar Rundungen gab.

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