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Jugendliche in Deutschland.
© pa/obs/B2X Care Solutions

Sinus-Jugendstudie 2020: Generation Problembewusstsein

Die neue Sinus-Jugendstudie zeigt ein breites Spektrum jugendlicher Lebenswelten auf. Was junge Menschen dabei eint, sind Ernsthaftigkeit und Sorgen um die Zukunft.

Wie ticken junge Menschen anno 2020? Was erhoffen sie im Kern für sich selbst und die Gesellschaft? Mit welchen Werten und Moralvorstellungen ist ihr Denken und Handeln verknüpft?

„Der Trend, dass die Jugend zunehmend ernster und besorgter ist als früher, hat sich abermals bestätigt,“ erklären die an der Sinus-Jugend-Studie 2020 beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Wie in der letzten Erhebung von 2016, sucht die seit 2008 alle vier Jahre vom Heidelberger Sinus-Institut durchgeführte Jugendstudie auch im Anbruch des neuen Jahrzehnts zu ermitteln, wie es um das Mindset „der Jugend“ bestellt ist.

Lebendiges Stimmungsbild der jugendlichen Generation

Die anhand von Interviews mit 72 aus dem gesamten Bundesgebiet stammenden Menschen im Alter von 14 bis 17 Jahren durchgeführte Studie hat dabei – anders als etwa die Shell-Studie – nicht den Anspruch, statistisch repräsentativ zu sein.

Dafür ist die Zahl der sowohl männlichen als auch weiblichen und aus verschiedenen soziokulturellen Milieus stammenden Probanden zu gering – Sinus stellt keine Prozentsätze vor. Wohl aber sei die qualitative Studie „in psychologischer Hinsicht“ charakteristisch, sagen die Initiatoren, zu denen unter anderem die Deutsche Jugendstiftung und die Bundeszentrale für Politische Bildung gehören. „Wir wollten in erster Linie ein dichtes und möglichst lebendiges Stimmungsbild der jugendlichen Generation zeichnen“, erklärt Marc Calmbach, der Leiter der Studie.

Alles anders in 2020?

Hat sich nun gegenüber 2016 – als die sogenannte Generation Z portraitiert wurde – Wesentliches verändert? Die Jugendlichen, die die letzte Sinus-Studie in den Blick nahm, wurden im Anschluss an die Publikation häufig als „Generation Mainstream“ verschlagwortet. Kennzeichnend sei, bei allen Unterschieden, der Traum einer Otto-Normal-Biographie. In der Berichterstattung war nicht zuletzt vom allenfalls subtilen Klein-Klein-Protest einer stark angepassten Alterskohorte die Rede. Niedrigschwelliger Clicktivism ja, wutentbrannter Protest aber nein. Dass Jugendliche die Systemfrage stellen, kam 2016 eher selten vor.

Nun – da gab es noch kein Fridays-for-Future, keine globale Jugendbewegung, die ihren Frust über die ökopolitische Ignoranz der Mächtigen auf die Straßen zahlreicher Städte trug. Also alles anders in 2020?

Vor allem die bildungsnahen Jugendlichen haben mit den Fridys-for-future-Protesten ein Politisierungsfeld gefunden.
Vor allem die bildungsnahen Jugendlichen haben mit den Fridys-for-future-Protesten ein Politisierungsfeld gefunden.
© Marcel Kusch/dpa

Jein, muss die Antwort in diesem Fall wohl lauten. So hätten zwar vor allem die „bildungsnahen Jugendlichen“ mit den Fridays-for-Future-Protesten „ein wirksames Politisierungsfeld gefunden“, erklärt der Präsident der Bundeszentrale für Politische Bildung, Thomas Krüger. Es gebe überall „eine große Sorge betreffend aller Fragen rund um den Klimawandel sowie die Klima- und Umweltpolitik“ und eine im eigentlichen Wortsinn „konservative“, mithin weltbewahrende Protestkultur.

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Der sich seit mehreren Jahren abzeichnende Trend zum „Regrounding“ setze sich indessen aber fort. So streben die meisten Jugendlichen unaufgeregte Lebensentwürfe in gesicherten und hergebrachten Bahnen an. Schule, wahlweise Studium oder Ausbildung, Lohnarbeit, Liebesehe, Kinder und Hund. Exzentrische Entwürfe und der Hang zum großen Rausch, finden sich da heute eher selten. Auch Hyperindividualismus und egotaktisches Biographiedesign sind den Forschern zufolge auf dem Rückzug.

Nun ist es natürlich vermessen, „die Jugend“ als solche zu bestimmen. Die Lebenswelten der Jugendlichen sind nach wie vor stark ausdifferenziert. So erkennt die Sinus-Studie bei den aktuell 14-17-Jährigen zunächst die drei normativen Grundorientierungen „Absicherung“, „Bestätigung/Benefits“ und „Charisma“ – grob gesagt einen „Safty-First-Typus“, einen „Mitten-drin-statt-außen-vor-Typus“ und einen „Grenzen-sind-da-um-überschritten-zu-werden-Typus“.

Sieben "jugendliche Lebenswelten"

Diese Grunddifferenzierung kreuzt die Studie mit einer weiteren Achse, die nach niedriger, mittlerer und hoher Bildung unterscheidet. Innerhalb dieses Koordinatensystems verorten die Forscherinnen nun sieben „jugendliche Lebenswelten“, die als „prekär“, „traditionell-bürgerlich“, „konsummaterialistisch“, „adaptiv-pragmatisch“, „postmateriell“, „expeditiv“ und „experimentalistisch“ beschrieben werden.

Wo sich traditionell-bürgerlich ausgerichtete Jugendliche zum Beispiel vornehmlich an Sicherheit orientieren und tendenziell einen „mittleren Bildungsstand“ aufweisen, gelten die Postmateriellen als „weltgewandte, bildungsnahe Teenage-Bohemiens mit ausgeprägtem Gerechtigkeitsempfinden“ und haben in der Regel eine höhere Bildung.

Die meisten Jugendlichen sind nicht wirklich unzufrieden. Hoffnungsfroh aber ebenfalls nicht. Die Stimmung ist "gedämpft-optimistisch".
Die meisten Jugendlichen sind nicht wirklich unzufrieden. Hoffnungsfroh aber ebenfalls nicht. Die Stimmung ist "gedämpft-optimistisch".
© imago/photothek

Die markenbewussten „Konsummaterialisten“ rekrutieren sich vornehmlich aus der „freizeit- und familienorientierten unteren Mitte“. Die „Experimentalisten“ wiederum werden als „spaß- und szeneorientierte Nonkonformisten mit Fokus auf die Gegenwart“ beschrieben – seien aber eben in der Minderheit. Wie in den Generationen zuvor, gibt es also einen breiten Fächer an Lebensstilen und Wertekorsetten. Nichts, was wirklich überrascht. Und doch arbeitet die Studie jenseits aller Differenzen eine Reihe von Gemeinsamkeiten heraus, die die junge Generation wesentlich prägen sollen.

Gemeinsamkeit 1: Ernsthaftigkeit und Problembewusstsein

Insgesamt, so die Verfasserinnen und Verfasser, befindet sich die „der Jugend“ gemeinhin zugeschriebene hedonistische Mentalität im Abschwung: Lifestyle und Party verlieren an Bedeutung. Es gebe zwar noch zahlreiche Nischenszenen: die Ära überwölbender Subkulturen, die ganze Generationen umfassen, sei aber endgültig vorüber. Wie in der Vorgängerstudie stehen „Leistung“ und „Selbstverantwortung“ bei zeitgenössischen Jugendlichen hoch im Kurs. Gleichzeitig aber habe „die Skepsis gegenüber dem neoliberalen Wettbewerbsparadigma“ weiter zugenommen.

Die allgemeine Gestimmtheit der Jugend wird in der Sinus-Studie als „gedämpft optimistisch“ beschrieben. „Zwar ist niemand absolut unzufrieden, aber auch nur wenige zeigen sich enthusiastisch und zukunftsfroh“, resümieren die Autoren. Der Übertritt ins Erwachsenen- und Berufsleben sei häufig angstbesetzt, selbst bei Jugendlichen „bildungsnaher Lebenswelten“.

Alle beklagen einen "notorischen Zeitmangel"

Das hänge ohne Zweifel auch mit der das 21. Jahrhundert bestimmenden Öko-Katastrophe zusammen. „Viele Jugendliche sind sich darüber im Klaren, dass das Überleben des Planeten in Gefahr ist.“ Die meisten befürworteten kulturelle Vielfalt, die sie oft als selbstverständlich empfänden, seien aber ob der anhaltenden Zuwanderung dennoch häufig besorgt.

Familie spielt für viele eine große Rolle.
Familie spielt für viele eine große Rolle.
© imago/photothek

„Die Jugendlichen aller Lebenswelten beklagen zudem einen notorischen Zeitmangel“, sagt die an der Studie beteiligte Politikwissenschaftlerin Lisi Mayer vom Bund der katholischen Jugend. Das Lebensgefühl, gegen herabfahrende Rolltreppen anzulaufen – das laut dem Sozialphilosophen Hartmut Rosa die Spätmoderne insgesamt kennzeichnet – ist also nach wie vor verbreitet. 

Die Jugendlichen betrachteten die Welt und ihre Probleme letztlich ernsthaft und realistisch, Sturm-und-Drang-Gebaren ginge ihnen ab. „Fast scheint es, als sei der Jugend der Spaß abhandengekommen“, so das erstaunte Fazit der Autoren.

Gemeinsamkeit 2: Sicherheit statt Ausbruch              

Sicherheit und Geborgenheit sind für die meisten der Befragten demnach die zentralen Anliegen. Die Unübersichtlichkeit der Weltlage und ein auf Dauer gestelltes Krisengeschehen verstärkten den „gesellschaftlichen Megatrend zum Regrounding“ – die Sehnsucht nach festem Grund und Orientierung. Die Corona-Krise – der die Forscher ein eiligst erstelltes und an die Studie angehängtes Schlusskapitel widmen – wirkt natürlich ebenfalls verunsichernd.

Der jugendliche Zeitgeist sei grün und bewahrend. „Die meisten Jugendlichen bezeichnen sich als bodenständig“, berichten die Verfasser. In allen sieben von den Forschern modellierten „jugendlichen Lebenswelten“ würden – zusätzlich zu den handlungsorientierenden Werten Leistung und Selbstbestimmung – die Attribute Loyalität, Hilfsbereitschaft und Toleranz geachtet.

Über die Klima-Katastrophe machen sich die Jugendlichen aller Lebenswelten extreme Sorgen.
Über die Klima-Katastrophe machen sich die Jugendlichen aller Lebenswelten extreme Sorgen.
© dpa

So habe sich die bereits in der Vorgängerstudie beobachtete „Renaissance klassischer Tugenden“ verstetigt. „Werte wie Anstand, Treue, Fleiß, Ordnung und Bescheidenheit haben in der jungen Generation wieder Geltung.“ Anders als früher, würden als Vorbilder der Jugendlichen denn auch weniger Rockstars oder Sportprofis benannt, als vielmehr Menschen aus der eigenen Familie. 

Gemeinsamkeit 3: Individualisierung wird kritisch gesehen

Der soziokulturelle Trend zu Selbstoptimierung und „Autozentrik“, zu Dominanz und Rivalität habe sich in der jungen Generation deutlich abgeschwächt. So beklagten die Jugendlichen vielfach eine Jeder-für-sich-Mentalität und fehlenden sozialen Zusammenhalt. Gerade mit Blick auf die Corona-Krise hätten viele von ihnen die Relevanz von Fürsorge und gesellschaftlichem Miteinander betont, sagt Dirk Weller von der Krankenkasse Barmer, die eine Förderin der Sinus-Studie ist.

Neoliberales Wettbewerbs- und Effizienzdenken würden von den 14-17-Jährigen äußerst kritisch gesehen – Leistungs- und Konkurrenzängste seien weit weitverbreitet. „In der Mehrzahl der jugendlichen Lebenswelten sind heute gute, abgesicherte Lebensverhältnisse wichtiger als Status, Erfolg und Aufstieg“, schreiben die Autoren. Es gehe weniger darum, „sein eigenes Ding“ zu machen und um jeden Preis erfolgreich zu sein, als um „Wohlbefinden, Gesundheit, Balance und soziale Einbindung“.

Sollte die von den Sinus-Forschern ausgemachte Trendwende hin zur nivellierten Mittelstandsbiographie von Dauer sein, könnte sich die von dem Soziologen Andreas Reckwitz diagnostizierte „Gesellschaft der Singularitäten“ womöglich als Auslaufmodell erweisen. 

Nicht zuletzt, so die Autoren, werde eine mehr oder weniger explizite Kritik am kapitalistischen Axiom vom grenzenlosen Wachstum bei gleichzeitig begrenzten Ressourcen, am unbedingten wirtschaftlichen Steigerungszwang und der Ökonomisierung vieler Lebensbereiche, von jungen Menschen immer häufiger geäußert.  

In die Polizei haben viele Jugendliche großes Vertrauen...
In die Polizei haben viele Jugendliche großes Vertrauen...
© Sebastian Kahnert/dpa-Zentralbild/dpa
.... kaum Vertrauen haben Jugendliche dagegen in politische Parteien.
.... kaum Vertrauen haben Jugendliche dagegen in politische Parteien.
© imago/Christian Ohde

Gemeinsamkeit 4:  Die Jugend fühlt sich nicht gehört

Die Klimakrise, so die verbreitete Einschätzung der Jugendlichen, würde von den Verantwortlichen nicht ernst genommen; Problemlösungen würden verschleppt und hintertrieben. Gefühle von Ohnmacht und Verdrossenheit, seien eine Folge dieser Wahrnehmung. „Viele Jugendliche haben das Gefühl von Macht- bzw. Einflusslosigkeit und die Überzeugung, als Minderjährige nichts ausrichten zu können“, heißt es im Resümee der Studie.

Die wachsende Empörung kanalisiere sich vor allem in den zeitgenössischen Klimademonstrationen. „Die Kritik am Zynismus der Älteren“, findet sich in allen jugendlichen Lebenswelten, sagt Marc Calmbach.

Die etablierte Politik sei dabei für die meisten Jugendlichen ein fremdes Universum, jenseits der eigenen Lebenswirklichkeit. So identifizierten sie sich zwar mit den privilegierten Verhältnissen in Deutschland, beklagten aber fehlende Teilhabe und mangelnde politische Repräsentation der Jüngeren und Jüngsten im Land. „Neu ist, dass das Thema Nachhaltigkeit mit dem Aspekt der Generationengerechtigkeit verknüpft wird“, sagt Thomas Krüger von der BpB. Die Politik müsse sich darauf einstellen, dass die Jugend sich zukünftig selbst um ihre Belange kümmert. „Der Klimaprotest ist keine Eintagsfliege“.

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