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Märchenhaft. Der „Gestiefelte Kater“ aus dem Märchen der Grimm-Brüder steht für die Ungerechtigkeiten beim Erbgang. „Erben“ ist beliebtes literarisches Thema. Foto: Mauritius
© Mauritius

Die Deutschen erben immer mehr: Generation Goldener Löffel

Sprengkraft für die Gesellschaft: Die Deutschen erben immer mehr, doch die Erbschaften sind ungleich verteilt. Das hat auch historische Gründe.

Wellington Burt, ein Multimillionär aus Michigan, starb im März 1919. Doch mit seinem Erbe zog es sich fast ein Jahrhundert hin. Vor seinem Tod hatte er testamentarisch verfügt, dass es erst dann ausgezahlt werden dürfe, wenn der letzte ihm noch persönlich bekannte Enkel selbst 21 Jahre tot sei. Offenbar hatten sich die Verwandten des Holzunternehmers als zu ungeduldig erwiesen. Erst als die Frist im November 2010 endlich auslief, konnten sich zwölf Nachkommen im Alter zwischen 19 und 94 Jahren ein mittlerweile gut verzinstes Vermögen von 100 Millionen Dollar teilen.

Das Thema „Erben“ besitzt alles, was zur Neugier reizt: prominente Schicksale, sozialen Sprengstoff, in materielle Interessen hineingewirkte Emotionen, familiäre Inventuren und kriminelle Energien. Aus diesen Gründen ist das Erben durch alle literatur- oder filmhistorischen Epochen hindurch zu einem Leitmotiv erzählender Genres geworden – vom „König Lear“ bis zu den „Buddenbrooks“ und von Balzacs „Eugenie Grandet“ bis zum „Gestiefelten Kater“. Für Komödien und Dramen aller Art, von Krimis ganz zu schweigen, ist der Erbfall ein überaus dankbarer Plot.

Für die zeithistorische Wissenschaft, zumindest für die deutschsprachige, trifft diese Feststellung überraschenderweise kaum zu. Während für die älteren Epochen der Geschichte das Vererben, die Weitergabe von Land und Besitz, der Umgang mit Mitgiften, strategisches Heiratsverhalten oder die adlige Erbfolge seit Langem maßgebliche und sehr gut erforschte Themenfelder sind, gilt dies für das 19. und vor allem für das 20. Jahrhundert nur sehr eingeschränkt. Dabei hat man es mit einem Vorgang zu tun, der in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen ist – für die familiäre Weitergabe von Gütern, von Traditionen, aber auch von psychologischen und anderen Belastungen.

Jedes Jahr werden 250 Milliarden Euro vererbt

Laut einer Umfrage der Postbank werden in der Bundesrepublik jedes Jahr 250 Milliarden Euro an Werten vererbt, mit deutlich steigender Tendenz. Deutschland erlebt gegenwärtig die größte Erbschaftswelle seiner Geschichte. Bis 2020 wird voraussichtlich ein Drittel des deutschen Privatvermögens, das sich insgesamt auf sieben Billionen Euro beläuft, an die nächste Generation vererbt – pro Erbfall sind das im Durchschnitt 363 000 Euro. Der Fiskus nimmt davon jährlich nur rund 4,6 Milliarden Euro ein, das entspricht einem einzigen Prozent des gesamten Steueraufkommens.

Mit Blick auf die heute lebenden Deutschen ist daher von einer „Generation Goldener Löffel“ die Rede. Hier gilt es freilich zu differenzieren zwischen denjenigen, die wenig erben (zum Beispiel nur ein paar Memorabilien des oder der Verstorbenen), und denjenigen, die mehr oder weniger unverhofft in den Besitz erheblicher Werte gelangen. Dabei zeigt sich ein Trend zu wachsender Ungleichheit: Wer schon etwas hat, dem wird auch gegeben. Wer männlich und Westdeutscher ist, erbt ungleich häufiger und mehr als Frauen, zumal wenn sie aus Ostdeutschland kommen. Der im Vererben und Erben liegende Trend ist deutlich, auch die soziale Sprengkraft, die darin für eine der eigentlich meritokratisch strukturierten Gesellschaften Europas liegt.

Erben als soziale Konstante

Ethnologen haben festgestellt, dass es zwar eine ungeheure Fülle an kulturell geprägten Riten und Mechanismen der Vererbung gibt, dass man es bei dem Prozess der Weitergabe von Besitz aber offensichtlich mit einer Art sozialer Konstante zu tun hat. Gesellschaftlich variabel sind lediglich die Definitionen, wer erbberechtigt ist. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich vor allem die Position von Ehegatten verbessert, also namentlich von Erbinnen. Auch unterscheiden sich von Land zu Land die Bemühungen, die gesellschaftlich vermeintlich dysfunktionalen Folgen des Vererbens und Erbens auszugleichen.

Meist liefen solche Reformen auf die Erhebung entsprechender Steuern hinaus, die in Europa nach antiken Vorläufern in Sumer, Ägypten und dem Römischen Reich seit dem frühen 15. Jahrhundert zuerst in den italienischen Stadtstaaten, danach in den Niederlanden eingeführt wurden. In den deutschen Ländern wurden derartige Steuern erst im 17. Jahrhundert üblich und vor allem zur Deckung von Militärausgaben verwandt. Das war auch der Grund, sie 1906 im Kaiserreich noch einmal reichsweit einzuführen. Zuvor hatten Politiker und Nationalökonomen jahrzehntelang darüber gestritten, ob zur Bekämpfung etwa des Pauperismus der Staat nicht generell als Erbe privater Vermögen eingesetzt werden sollte.

In Deutschland sind die Erbsteuern niedriger als anderswo

Das Erbrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches stellte einen Kompromiss dar. Auf der einen Seite standen wohlbegründete Hinweise auf die Finanzierung staatlicher Aufgaben sowie den Schutz der Eigentumsordnung, denen man insbesondere die entfernteren Verwandten als unverdient „lachende Erben“ gegenüberstellte. Auf der anderen Seite zeigten sich weltanschaulich aufgeladene Familienbilder, die darauf aus waren, mit dem integrativen Akt des Vererbens und Erbens die Blutsverwandtschaft über den Kreis der Kernfamilie hinaus zu stärken.

So ist es im Grunde bis heute geblieben. Forderungen nach einer stärkeren Besteuerung von Erberträgen sind zwar populär, bisweilen auch populistisch. Bislang führten sie aber zu keinen strukturellen Veränderungen im Erbrecht. Im Ergebnis der moderaten Reformen des 20. Jahrhunderts werden heute in Deutschland weniger Erbschaftssteuern entrichtet als noch vor dem Ersten Weltkrieg. Die Steuersätze fallen deutlich niedriger aus als in Frankreich oder den angelsächsischen Staaten, in denen Chancengleichheit, soziale Gerechtigkeit und Vorstellungen über den Stellenwert von Familien kulturell möglicherweise etwas anders gewichtet werden.

Erhalten sich vormoderne Strukturen?

Woher kommt also die auf lange Sicht gesehen doch erstaunliche Beharrungskraft der Erbrechte, die Max Weber einmal als „höchst künstliche Konstruktionen“ bezeichnet hat? Eigentlich müsste das Erben seit dem 19. Jahrhundert einem schleichenden Funktionsverlust unterliegen, denn seine klassische Aufgabe, weitläufige Familien und deren Anhänge zu versorgen, wurde in der Hochphase des westlichen Wohlfahrtsstaates zu einem großen Teil von sozialen Sicherungssystemen übernommen. Erhalten sich in Erbrecht und Erbpraxis, etwa wenn es um die Weitergabe von Familienbetrieben geht, vormoderne, ständestaatliche oder andere Strukturen, die quer zu den Idealen der individualisierten Leistungsgesellschaft stehen?

Tatsächlich veränderten sich im 19. und 20. Jahrhundert Eigentumsverteilungen vermutlich eher durch Kriege und Wirtschaftskrisen, während sich in langen Friedenszeiten ohne Inflationen oder Währungsreformen die Disparitäten in den Wohlstandsniveaus zwischen Erben und Nichterben fortlaufend vergrößert haben dürften. Dieser Annahme wäre weiter nachzugehen, und sie würde der sozialgeschichtlichen Diskussion um Gleichheit und Gerechtigkeit vermutlich neue historische Ebenen einziehen.

Das "Erbschafts-Business" in Deutschland

Wer außer den legitimen – oder als legitim deklarierten – Erben und dem Staat konnte und kann noch Ansprüche auf einen Nachlass geltend machen? Klassischerweise haben sich die Kirchen oder Orden angeboten, später auch Altersheime, denen bei einer Aufnahme oft das gesamte Erbe zu überschreiben war.

Heute sind es Stiftungen und gemeinnützige Einrichtungen, die sich um ein Erbe geradezu bewerben. Auch das um den Tod herum entstandene „Erbschafts-Business“ ist sozial- und mentalitätsgeschichtlich überaus aufschlussreich. Gemeint sind Notare und Erbmediatoren, Treuhänder und Testamentsvollstrecker, Auktionatoren und Anlageberater, Bestattungsunternehmer, Haushaltsauflöser und nicht zuletzt Erbenermittler. Allein in Deutschland versterben jährlich etwa 60 000 Menschen ohne Testament und ohne bekannte Erben. Können amtliche Nachlasspfleger in solchen Fällen keine Erben finden, werden spezialisierte Firmen damit beauftragt, die gegen ein Erfolgshonorar arbeiten.

Schon die Aufklärer hatten verhindern wollen, dass eine vorangehende Generation die nächste durch das Erbe konditioniert oder einschränkt. Doch kann dieser „letzte Kommunikationsvorgang“ bis heute zu berechnendem Verhalten und sozialem Taktieren gegenüber dem potenziellen Erblasser führen – und vice versa. Denn in das Erbe ist weiter eine „Logik der Gabe“ eingeflochten, die in den Zeiten von Mitgiften und Aussteuern noch sichtbarer gewesen ist. Auch das demonstrative Ausschlagen des Erbes ist ein solcher Kommunikationsvorgang.

Seismographen für historischen Wandel

Vererben und Erben sind in ihren gesellschaftlichen Vereinbarungen und familiären Praxen Seismografen für historischen Wandel. Die Archive sind auf sämtlichen Überlieferungsebenen voll von Material, da sich um das Erben stets eine reichhaltige politische, ökonomische und soziale Konfliktgeschichte entfaltet hat, die damit „aktenkundig“ wurde. Weniger gut überliefert und erschlossen sind Zeugnisse zur Erfahrungsgeschichte des Erbfalls, da hierüber viel innerfamiliäres Schweigen ausgebreitet wurde. Denn der Streit um das Erbe wird oft als Stellvertreterkrieg für ungelöste Familienkonflikte geführt. Und fast scheint es, als würden Staat und Öffentlichkeit – aus Gründen der Pietät oder warum auch immer – hierbei Tabus und geschützte Räume wahren.

- Der Autor ist Professor für Zeitgeschichte an der Uni Gießen. Diese Fassung beruht auf einem Text, der in „Zeithistorische Forschungen“ erschienen ist (Verlag Vandenhoeck & Ruprecht).

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