zum Hauptinhalt

Wissen: Gemeinsam geht’s besser

Umfangreiche Analyse zeigt: Getrennter Unterricht für Jungen und Mädchen bringt nicht mehr Lernerfolg

In der kleinen Dorfschule von früher war nichts anderes denkbar: Alle Kinder lernten zusammen. Dass junge Damen und Herren gemeinsam die „höheren“ Schulen besuchten, war dagegen lange Zeit verpönt. Als nach dem Zweiten Weltkrieg in beiden Teilen Deutschlands das gemeinsame Unterrichten von Jungen und Mädchen an öffentlichen Schulen zum Normalfall wurde, galt das als fortschrittlich – manchem Konservativen gar als zu fortschrittlich. Einige weiterführende Schulen, vor allem in kirchlicher Trägerschaft, blieben denn auch „reine“ Mädchen- oder Jungengymnasien. Kein Wunder also, wenn manche Leserin sich verwundert die Augen rieb, als ausgerechnet die Zeitschrift „Emma“ 1989 mit der Schlagzeile „Koedukation macht dumm“ aufwartete. Die Besorgnis galt damals vor allem den Mädchen, die in Mathe und Physik in gemischten Klassen nicht genug gefördert würden. Inzwischen fürchten Kritiker der Koedukation eher umgekehrt um die Bildungschancen der Jungen in einer „verweiblichten“, von Lehrerinnen und fleißigen Schülerinnen dominierten Schule.

Strikte Trennung kann nicht die Lösung dieser Probleme sein, schreibt ein Team amerikanischer Pädagogen, Psychologen und Hirnforschern im Fachblatt „Science“ (Band 33, Seite 1706), nachdem sie zahlreiche Untersuchungen zu diesem Thema ausgewertet und verglichen haben. „Es gibt keine guten Studien, die zeigen würden, dass getrenntgeschlechtliche Erziehung die Lernergebnisse verbessert“, lautet das Fazit von Diane Halpern vom Claremont McKenna College in Kalifornien und ihren Kollegen. Mit solchen Ergebnissen stehe und falle aber die Berechtigung der getrennten Klassen, zumindest im öffentlichen Sektor. Etwa 500 solcher Klassen gibt es in den USA, seit 2006 erlaubt das Bildungsministerium ihre Einrichtung unter bestimmten Bedingungen.

Und das, obwohl die Studienergebnisse eher ernüchternd ausfallen. In großen Untersuchungen aus Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland zeigen sich zwar minimale Leistungsvorsprünge der „Single-Sex“-Klassen, schreibt Halperns Team. Die allerdings kämen schnell zum Verschwinden, wenn man die Unterschiede berücksichtigt, die bereits beim Start bestehen. In den neuen getrenntgeschlechtlichen Klassen finden sich viele Kinder, die schon mit besseren Ergebnissen aus der Grundschule kommen und die zudem schnell die Schule wechseln, falls Erfolge ausbleiben. Sie haben Eltern, die ihrerseits gebildeter sind und ihre Kinder besser fördern. Dazu komme, dass ein neues Unterrichtsmodell „wie ein neues Medikament oder Produkt“ vom großen Schwung und Enthusiasmus aller Beteiligten profitiere.

Auf Deutschland übertragen dürfte das auch auf die neu eröffnete reine Jungenklasse im bisher den Mädchen vorbehaltenen katholischen Gymnasium Marienschule in Limburg an der Lahn zutreffen. Wer den Erfolg getrenntgeschlechtlicher Klassen oder Schulen streng wissenschaftlich ermitteln wolle, müsse die Schüler(innen) eigentlich nach dem Zufallsprinzip einer gemischten oder getrennten Lerngruppe zuteilen, fordern die Autoren.

„Weil das nicht möglich ist, müssen wir uns solcher Effekte bewusst sein und sie sorgfältig herausrechnen“, bestätigt die Psychologin Marianne Horstkemper, Professorin für Allgemeine Didaktik an der Universität Potsdam und Autorin des Buches „Schule, Geschlecht und Selbstvertrauen“. Sie war an zahlreichen Forschungsprojekten zum gemischten und getrennten Unterricht beteiligt, unter anderem im Fach Informatik. Auch ihr Fazit lautet: „Es gibt keine klaren Belege dafür, dass die Ergebnisse in getrenntgeschlechtlichen Lerngruppen besser wären, weder im Primar- noch im Sekundarschulbereich.“

Horstkemper hat darüber hinaus inzwischen auch einen prinzipiellen Vorbehalt gegen die Trennung der Geschlechter im Unterricht: „Sie führt dazu, dass die Kategorie Geschlecht in der Schule in unangemessener Weise betont und unreflektiert als Merkmal für äußere Differenzierung benutzt wird.“ Mit der Trennung von Jungen und Mädchen in den Klassenräumen öffentlicher Schulen werde den allenfalls kleinen Unterschieden erst große Bedeutung gegeben, meinen auch die Autoren des durchaus kämpferischen Science-Beitrags. Kinder lernten auf diesem Weg, dass Geschlechtszugehörigkeit ein grundlegendes menschliches Merkmal sei, „an dem sich Erwachsene orientieren, wenn sie Erziehung organisieren“.

Tatsächlich haben Studien der Ko-Autorin Lynn Liben, Psychologin an der Universität Pennsylvania, gezeigt: Teilt man Kinder nach Kriterien wie Geschlecht, Augenfarbe oder auch Farbe des T-Shirts in Gruppen, so halten sie diese Merkmale anschließend für bedeutsamer als Altersgenossen, bei denen solche Gruppen nicht gebildet wurden.

Wirklich erbost sind die Forscher über Lehrer(innen), die Kindern erzählen, es sei wissenschaftlich erwiesen, dass Jungen grundlegend anders lernen als Mädchen. „Ein solches Statement spiegelt Fehlinformationen über neurobiologische Forschung wider“, schreiben die Autoren, zu denen auch Lise Eliot gehört, Autorin des viel beachteten Buches „Wie verschieden sind sie?“ („Pink Brain, Blue Brain“) über die Gehirnentwicklung bei Jungen und Mädchen. Die Differenzen seien auf jeden Fall nicht groß genug, um unterschiedliche Erziehungsmethoden zu rechtfertigen.

Vorschläge dazu kursieren in den USA durchaus: Mit Jungen müsse man eher Klartext reden, Mädchen sanft und schonend ansprechen, sagt etwa Leonard Sax, Autor des Buches „Why Sex matters“ und Verfechter des „Single-Sex-Schooling“. So würden Geschlechtsrollenklischees verfestigt, fürchten dagegen die „Science“-Autoren. Gegen Sexismus jeder Art könne man mit getrenntgeschlechtlicher Erziehung nicht wirkungsvoll kämpfen. Ebenso wenig wie es gegen Rassismus helfe, die Apartheid aufleben zu lassen und Klassen von Weißen und Schwarzen einzurichten.

Auch Horstkemper hält heute getrennten Unterricht allenfalls in „homöopathischen Dosen“ für sinnvoll. Zum Beispiel, wenn die Schüler(innen) sich das in einer bestimmten Arbeitsphase selbst wünschen. Prinzipiell sei aber ihr „Bewusstsein für Risiken und Nebenwirkungen“ des separaten Unterrichts im Verlauf eines langen Forscherinnenlebens gewachsen, sagt sie. Für Horstkemper steht fest: Nur eine „reflexive Koedukation“ bringe Jungen wie Mädchen weiter.

Adelheid Müller-Lissner

Zur Startseite