Wissenschaftsaustausch mit Russland: Gekappte Kontakte und ein Hilferuf aus Moskau
Unis lassen Projekte und Partnerschaften mit der russischen Wissenschaft ruhen. Hunderte Forschende in Russland verurteilen den Krieg und fürchten Isolation.
„Sämtliche Aktivitäten mit Russland – auch die institutionellen und strategischen Verbindungen mit russischen Einrichtungen – werden bis auf Weiteres ruhen“, teilt das Präsidium der Technischen Universität Berlin am Sonntag nach einer Sondersitzung mit. „Neue Projekte werden nicht starten.“ Betroffen sind unter anderem die Partnerschaft mit der Peter the Great St. Petersburg Polytechnic University sowie gemeinsame Master- und Promotionsprogramme mit anderen russischen Unis.
Ähnlich verfährt die Freie Universität Berlin angesichts des weiteren Vormarsches russischer Truppen in der Ukraine: Die Beziehungen zu wissenschaftlichen Einrichtungen in Russland werden vorerst ausgesetzt, Aktivitäten wie die Strategische Partnerschaft mit der Universität St. Petersburg ruhen gelassen, wie die FU am Freitagabend mitteilte. Das gilt auch für das im Dezember bereits virtuell eröffnete Büro der russischen Uni auf dem Dahlemer Campus. Das Verbindungsbüro der Freien Universität in Moskau wird geschlossen.
Damit folgen die beiden Berliner Universitäten – wie berlin- und bundesweit wohl die allermeisten Hochschulen - den Empfehlungen der Allianz der Wissenschaftsorganisationen und des Deutschen Akademischen Austauschdienstes. Der DAAD stoppte mit sofortiger Wirkung Bewerbungsmöglichkeiten für Russland-Stipendien und Auswahlrunden für DAAD-Stipendien nach Russland und forderte die Hochschulen auf, alle DAAD-geförderten Projektaktivitäten mit Partnerinstitutionen in Russland und Belarus auszusetzen.
[Alle aktuellen Nachrichten zum Klimawandel bekommen Sie mit der Tagesspiegel-App live auf ihr Handy. Hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen]
Doch an der Förderung russischer Studierender und Wissenschaftler:innen, die schon in Deutschland sind und die sich gegenwärtig bewerben, wolle man „im Moment festhalten“, sagte DAAD-Präsident Joybrato Mukherjee dem Tagesspiegel.
Gerade in der Wissenschaft zeigten sich viele Menschen in Russland genauso entsetzt über den Angriffskrieg gegen die Ukraine wie ihre Austauschpartner:innen an deutschen Hochschulen und Forschungsinstituten, begründet Mukherjee diese Haltung.
Offener Brief: "fataler Schritt" und "zynischer Verrat"
Dieses Entsetzen auch auf russischer Seite spricht nun aus einem Offenen Brief russischer Wissenschaftler, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftsjournalisten, der seit Freitag mehrere Hundert Unterschriften bekommen hat. „Wir, russische Wissenschaftler und Wissenschaftsjournalisten, protestieren nachdrücklich gegen die von den Streitkräften unseres Landes eingeleitete Militäraktion in der Ukraine“, heißt es in dem Schreiben.
Es wurde auf der Homepage der Wissenschaftszeitung „TrV Science“ (Trojanische Variante Wissenschaft) veröffentlicht und in deutschen Wissenschaftsorganisationen per Mail in einer Übersetzung von Christian Spiering vom DESY in Zeuthen bei Berlin verbreitet. Die Erstunterzeichnenden des angesichts drohender Repressionen überaus mutigen Friedensappells arbeiten mehrheitlich in naturwissenschaftlichen Forschungsinstituten der Akademie der Wissenschaften Russlands.
[Lesen Sie auch unseren Bericht über Sanktionen gegen die Wissenschaft auf Tagesspiegel Plus: Der Austausch liegt teilweise auf Eis]
Die Forschenden aus Russland sehen im Angriff auf die Ukraine einen „fatalen Schritt“. Klar und in bewegenden Worten distanzieren sie sich vom Vorgehen der russischen Staatsführung: „Die Entfesselung des Krieges für die geopolitischen Ambitionen der russischen Führung, getrieben von zweifelhaften geschichtspolitischen Phantasien“ sei „ein zynischer Verrat“ am Gedenken an „unsere Väter, Großväter und Urgroßväter“ und ihrem Kampf gegen den Nationalsozialismus.
Angst vor der "technologischen Degradierung" Russlands
Für die Wirtschaftssanktionen der EU gegen Russland zeigen die Wissenschaftler:innen Verständnis, Russland habe „sich selbst zur internationalen Isolation, zur Position eines Pariastaates verurteilt“. Über die Auswirkungen für die Wissenschaft heißt es: „Wissenschaftliche Forschung ist ohne eine umfassende Zusammenarbeit mit Kollegen aus anderen Ländern nicht denkbar.“
Beklagt wird die „weitere kulturelle und technologische Degradierung unseres Landes“. Daraus folge: „Ein Krieg mit der Ukraine ist ein Schritt ins Leere.“ Die Forschenden fordern die Achtung der Souveränität und territorialen Integrität des ukrainischen Staates und die sofortige Einstellung aller Militäraktionen gegen die Ukraine.
Initiator des offenen Briefes ist dem US-amerikanischen Magazin „Science“ zufolge der Bioinformatiker Michail Gelfand, Professor für Biophysik an der Lomonossow-Universität in Moskau. Er wolle zeigen, „dass die russische scientific community nicht mit der russischen Führung identisch sei“, sagte Gelfand dem Magazin.
Berliner Unis wollen Härten möglichst abfedern
Der offene Brief richte sich auch an die ukrainischen Kollegen, die vom Widerstand in Russland erfahren sollten – ebenso wie die internationale Gemeinschaft. Er hoffe, „dass alle Bestrafungsaktionen gegen Russland so abgewogen werden, dass sie nicht die Leute treffen, die dagegen sind, was Russland tut“.
„Das ist ein überaus mutiger Schritt in die Öffentlichkeit, der von einer Bewegung mit hoher Reputation und Einfluss kommt“, sagte Dieter Hoffmann, ehemaliger Mitarbeiter am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte dem Tagesspiegel. Die Professoren und Professorinnen zeigten sich damit als Teil der russischen Zivilgesellschaft, so Hoffmann, der half, den Brief zu verbreiten.
[Lesen Sie auch diesen aktuellen Artikel auf Tagesspiegel Plus: Putins Propaganda bröckelt: Kippt jetzt die Stimmung in Russland?]
Der Appell der russischen Professor:innen trifft in Deutschland auf offene Ohren. So bedauerte FU-Präsident Günter M. Ziegler, dass die Entscheidungen der Universität „auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Studierende, die den Krieg gegen die Ukraine ablehnen“, treffen würden. Es sei aber unumgänglich, „insbesondere finanzielle Förderungen auszusetzen, die nach Russland fließen“.
Dabei wolle man sicherstellen, Härten für Forschende und Studierende abzufedern. Bewerbungen auf Stellen und Studienplätze an der FU seien weiterhin möglich.
TU-Präsident Christian Thomsen erklärte: „Es gibt viele freundschaftliche Verbindungen zu Kolleg*innen in Russland und wir hoffen, dass diese Beziehungen die schwierigen Zeiten überstehen werden.“ Die TU-Leitung biete ihren Mitgliedern „Beratung und Hilfestellung beim Umgang mit russischen Kooperationen und Partner*innen an“ und sichert Studierenden und Promovierenden in Doppel-Programmen zu, sie könnten „den Abschluss der TU Berlin anstreben“.