Großbritanniens Ausstieg aus dem Erasmus-Programm: Gefördert werden nur noch die eigenen Studierenden
Für britische Studierende geht es jetzt mit dem Turing-Programm ins Ausland. EU-Gäste müssen die vollen Gebühren zahlen. Hoffnung bieten aber Uni-Kooperationen.
„Es darf am 1. Januar keinen Riss geben, keinen Stillstand. Der Austausch muss in alle Richtungen weitergehen.“ Diese Forderung erhob Ruth Krahe, die Leiterin der Außenstelle London des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), wenige Tage vor der britischen Entscheidung, aus dem Erasmus+-Programm der EU auszusteigen.
Doch genau diese Fragen sind jetzt offen. Das Erasmus-Aus für Großbritannien wurde am 24. Dezember bekannt, nachdem sich der britische Premierminister Boris Johnson in letzter Minute mit der EU auf ein Post-Brexit-Abkommen geeinigt hatte.
An fünf EU-Programmen nimmt Großbritannien weiterhin teil, darunter am Forschungsprogramm Horizon Europe, am Forschungs- und Ausbildungsprogramm der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) und am Kernfusionsreaktorprojekt Iter – jeweils verbunden mit einer kontinuierlichen finanziellen Beteiligung der Briten.
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Auch das Erasmus-Programm fortzusetzen, wäre „extrem teuer“ für sein Land geworden, erklärte Johnson „die schwere Entscheidung“.
Erasmus zu teuer? Britische Unis rechnen anders
Der Hochschulverband Universities UK International hatte allerdings schon im März 2020 vorgerechnet, dass die Erasmus-Mitgliedschaft dem Land 2018 ein Plus von 243 Millionen Pfund beschert habe – nach Abzug der Kosten für die Mitgliedschaft von den Einkünften durch EU-Studierende von 420 Millionen Pfund, wie der „Guardian“ berichtete.
Der Mitgliedsbeitrag dürfte demnach zuletzt bei 177 Millionen Pfund (umgerechnet rund 196 Millionen Euro) jährlich gelegen haben.
Großbritannien gehörte 1987 zu den Gründungsnationen des EU-Studierendenaustausches – und war zuletzt mit mehr als 30.000 EU-Gästen jährlich nach Spanien und Deutschland das drittnachgefragteste Erasmus-Zielland. Von deutschen Unis gingen 2017 rund 3500 Studierende für ein oder zwei Semester mit Erasmus nach Großbritannien, umgekehrt waren es 2317.
Bewilligte Austausche bis 2023 gesichert
Was aber kommt nach dem Erasmus-Brexit auf Studierende zu, die jetzt in Großbritannien sind oder für das kommende Jahr einen Aufenthalt planen? „Alle Projekte, die im Rahmen der Calls 2019 und 2020 noch eine Förderung bekommen haben, finden bis 2023 statt – aufgrund der Corona-Pandemie sind sie um zwölf Monate verlängert worden“, erklärt Ruth Krahe auf der Homepage des DAAD London.
Zunächst haben Erasmus-Studierende also Planungssicherheit, offenbar bis zum 31. März 2023, der laut DAAD-Homepage das Ende der Projektlaufzeit markiert. In dieser Zeit gelten die regulären Förderbedingungen und Vorgaben, heißt es. So dürften bis dahin „für Erasmus+ Geförderte weiterhin keine Studiengebühren (home fees, international fees) erhoben werden“. Für eine aktuelle Stellungnahme waren DAAD-Stellen wegen Betriebsferien bis Anfang Januar nicht zu erreichen.
Allerdings gelten ab dem 1. Januar auch für den Erasmus-Austausch neue Visabestimmungen. Für Aufenthalte bis zu sechs Monaten brauchen Studierende kein Visum, erhalten aber auch keine Arbeitserlaubnis. Wer länger als ein halbes Jahr bleiben will, braucht ein Visum, die sogenannte „student route“, die bislang schon für Nicht-EU-Studierende galt. Zu zahlen sind dann Visumsgebühren und Kosten für den nationalen Gesundheitsdienst.
Aus für die ermäßigten Studiengebühren
Auf die zuletzt rund 12.000 Studierenden aus Deutschland, die ihr gesamtes Studium in Großbritannien absolvieren, kommen zusätzlich erhöhte Studiengebühren zu. Bisher zahlten sie die ermäßigten Tarife, die auch für Briten gelten - maximal 9250 Pfund (aktuell fast 11.000 Euro) im Jahr. Die Gebühren für internationale Studierende, zu denen nun auch die aus der EU zählen, sind in etwa doppelt so hoch.
Das gilt ab Juli 2021, wie es auf der Homepage des British Council heißt: „EU-Bürger, die ab dem akademischen Jahr 2021/22 in England, Schottland, Wales und Nordirland studieren (ab Juli 2021), haben keinen Zugang mehr zu der britischen Studienfinanzierung (tuition fee loans) oder Anspruch auf den ,home fee status' (gleiche Studiengebühren wie britische Studenten).“
Allerdings will die nordirische Regierung Teile des Erasmus-Programms eigenständig fortführen und finanzieren, wie am Weihnachtswochenende bekannt wurde.
Hoffnung auf den Austausch von Universität zu Universität
Im übrigen Großbritannien wird es nun auf einzelne Universitäten oder Hochschulverbünde ankommen, wie es für die EU-Studierenden weitergeht. So ist geplant, in den Kooperationen der Berliner Universitäten mit Oxford und der Münchner mit Cambridge auch in größerem Umfang Studierende einzubeziehen.
Die Londoner DAAD-Chefin weist darauf hin, dass britische Hochschulen frei seien, auf Gebühren zu verzichten oder sie zu reduzieren. „Ersatzprogramme werden sich im nächsten Jahr entwickeln“, glaubt Krahe. DAAD-Präsident Joybrato Mukherjee hatte vor einem Jahr im Interview mit dem Tagesspiegel vor "bilateralen Sonderregelungen im Sinne von Rosinenpickerei" gewarnt.
Sie könnten "für das Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU Sprengkraft entwickeln". Mukherjee sprach sich stattdessen für eine EU-weite Anschlussregelung aus.
Junge Briten sollen mit Turing-Programm ins Ausland
Für britische Studierende, die ins Ausland wollen, hat Boris Johnson bereits das Turing-Programm angekündigt, benannt nach dem Mathematiker, Kryptoanalytiker und Informatiker Alan Turing (1912-1954). Durch das mit 100 Millionen Pfund finanzierte Programm sollten 35.000 Studierende jährlich „an den besten Universitäten der Welt und nicht nur in Europa“ lernen können.
„Wir haben jetzt die Chance, mehr Studienmöglichkeiten im Ausland anzubieten, wovon mehr Studierende mit allen sozialen Hintergründen profitieren können“, zitiert der „Guardian“ Bildungsminister Gavin Williamson.
Vivienne Stern, Präsidentin von Universities UK International, bezeichnet das Turing-Programm als „fantastische Entwicklung“. Über das Aus für Erasmus sei ihre Organisation aber enttäuscht, zumal es erhebliche wirtschaftliche Verluste für Großbritannien bedeuten werde.
Jens Brandenburg, der hochschulpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, nennt die im Post-Brexit-Deal ausgebliebene Einigung zu Erasmus einen „Offenbarungseid für die britische Regierung und für die Europäische Union“. Die Zukunft des europäischen Bildungsaustauschs sei offensichtlich kein Schwerpunkt der Verhandlungen gewesen, wofür Brandenburg auch Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) mitverantwortlich macht.
„Anstatt sich persönlich bilateral und im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft für den Bildungsaustausch mit Großbritannien einzusetzen, hat Frau Karliczek immer wieder nur auf Brüssel verwiesen“, erklärt Brandenburg.