Biologie: Fremdling im Erbgut
Retroviren können die Evolution beschleunigen. Bei Koalas und Mäusen zeigt sich, wie sie das machen.
Es ist ein Gedanke, an den man sich nicht leicht gewöhnen kann: Jeder Mensch trägt hunderttausende Virusfragmente in seinem Erbgut, etwa acht Prozent unserer DNS stammen ursprünglich von solchen Erregern. Wie viel das ist, zeigt ein Vergleich: Nur etwa 1,2 Prozent unseres Erbguts wird in Eiweiße, die Bausteine des Lebens, übersetzt.
Mitunter sind die Reste des aufgenommenen Virenerbguts lebenswichtig. So muss vor vielen Millionen Jahren ein Retrovirus sein Erbgut in einen Vorfahren der Menschen eingeschrieben haben. In dieser DNS war auch die Bauanleitung für ein Eiweiß namens Syncytin enthalten, das seither beim Aufbau des für die Versorgung eines Embryos zuständigen Plazentagewebes in allen Menschenaffen eine wichtige Rolle spielt.
Retroviren bieten der Evolution eine Abkürzung. Normalerweise mahlen deren Mühlen sehr langsam. Dann ändern sich in einem Organismus zufällig einzelne Bausteine im Erbgut. Geschieht das in Samen- oder Eizellen, werden solche Mutationen auch an die Nachkommen weitergegeben. Bis auf diese Weise eine völlig neue Information entsteht, müssen sich viele Bausteine verändern. Jahrmillionen können vergehen. Es sei denn, die Evolution schreibt über Retroviren völlig neue Erbeigenschaften direkt in die DNS.
Wie dieses Einschreiben und wieder Herauslösen von Virenerbgut vor sich geht, beobachteten Alex Greenwood vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in Berlin, Al Roca von der Universität von Illinois und Kollegen bei australischen Koalas sowie George Young vom MRC National Institute for Medical Research in London und seine Kollegen bei Labormäusen. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie nun in den Fachjournalen „Molecular Biology and Evolution“ und „Nature“ (Online-Ausgabe).
Bei den Koalas schwächen Koala-Retroviren (KoRV) ähnlich wie der Aids-Erreger HIV beim Menschen das Immunsystem. Viele der Beuteltiere können deshalb Chlamydia-Bakterien nicht mehr in Schach halten, die sich in den Schleimhäuten der Augen und der Geschlechtsorgane rasant vermehren. Betroffene Koalas erblinden und überleben in der freien Natur nicht, andere können sich nicht mehr fortpflanzen. Genau wie bei aidskranken Menschen sind Begleitinfektionen lebensgefährlich. Nur manchmal verursacht KoRV Blutkrebs (Leukämie). In der Natur sterben die Tiere meist vorher.
Um sich zu vermehren, müssen Retroviren ihre DNS in das Erbgut der infizierten Tiere einklinken. Erst dort kann sich das Virus vermehren und dabei Krebs auslösen. HIV konzentriert sich auf Zellen des Immunsystems und schwächt dieses. Ähnlich reagiert auch KoRV und löst manchmal Leukämie aus. Das Koala-Retrovirus infiziert zudem die Ei- und Samenzellen. Entsteht daraus ein Nachkomme, findet sich die Virus-DNS im Erbgut jeder Zelle, auch in den Ei- und Samenzellen. Genau das ist die Abkürzung der Evolution: Die Erbeigenschaften des Virus werden mit dem Erbgut des infizierten Tieres weitergegeben.
Und da es bei solchen Retrovirus-Infektionen meist recht lange dauert, bis die ersten Symptome auftreten, können sich die infizierten Tiere normal vermehren und gleichzeitig die Viren an die Nachkommen weitergeben. Damit unterlaufen Retroviren einen wichtigen Mechanismus der Evolution, krankheitsanfällige Tiere von vorneherein von der Vermehrung auszuschließen. So konnte es dazu kommen, dass acht Prozent unseres Erbguts und elf Prozent des Erbguts von Mäusen von solchen Viren stammen.
Allerdings sind diese Virenreste alle uralt. Längst haben Mutationen die DNS dieser einst ins Erbgut eingebauten Retroviren so verändert, dass sie sich nicht mehr vermehren können. Damit sind die Erreger ans Erbgut gekettet und können keine neuen Viren mehr bilden.
Unter bestimmten Bedingungen können die Viren aber ihre Ketten sprengen, entdeckten George Young und seine Kollegen jetzt bei einem C57BL/6 genannten Stamm von Mäusen. Bei einigen funktionieren die Abwehrkräfte nicht richtig. Ihr Immunsystem konnte bestimmte Antikörper nicht bilden, die Erreger aufspüren und so deren Bekämpfung starten.
Anscheinend halten einige dieser Antikörper auch die im Erbgut festliegenden und veränderten Mäuse-Retroviren in Schach. Funktioniert die Antikörper-Reaktion nicht richtig, können sich die noch intakten DNS-Abschnitte verschiedener Retroviren aus dem Erbgut zu einem neuen Virus zusammenschließen. Der Erreger kann nun wieder neue Infektionen auslösen. Die von ihren Ketten befreiten Mäuse-Retroviren lassen ähnlich wie KoRV bei Koalas in den Nagetieren Tumoren in den für das Immunsystem wichtigen Organen wie der Milz wachsen.
Bisher konnten die Londoner Forscher nur bei Labormäusen beobachten, dass veränderte Viren aus dem Erbgut ausbrechen. Den umgekehrten Vorgang beschreiben Greenwood, Roca und Kollegen bei australischen Koalas. Bei den Beuteltieren beobachteten sie, wie sich Retroviren dauerhaft im Erbgut einnisten.
Bisher nahmen sie an, dass der Einbau ins Erbgut einer Art rasch erfolgt. Im Norden Australiens sind die meisten Koalas mit KoRV infiziert, etliche Tiere haben die Virus-DNS bereits im eigenen Erbgut. Ganz anders im Süden, wo nur wenige Koalas infiziert sind. Dieses Muster legt nahe, dass KoRV im Norden zu den Koalas kam und sich nun nach Süden ausbreitet. Als die Forscher aber die Überreste von 28 Koalas untersuchten, die in Museen der Welt lagern, fanden sie überall das KoRV-Erbgut fast unverändert. „Das zeigt, dass die Infektion schon lange dauert“, sagt Greenwood. Offensichtlich kürzen die Retroviren also die Wege der Evolution nicht von Jahrmillionen auf wenige Jahre ab, sondern vielleicht nur auf Jahrtausende. Die Koalas werden also noch einige Zeit unter Begleitinfektionen leiden; möglicherweise könnte KoRV die Art sogar ausrotten, bevor die Koalas die Chance haben, das neue Erbgut für ihre Zwecke einzuspannen.
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