Evolution: Fossiljäger im Urzeitmeer
Evolutionsforscher und Biosystematiker diskutieren in Berlin, wie sich der Stammbaum der Tiere rekonstruieren lässt.
Wenn Darwin durch das Berliner Naturkundemuseum hätte wandeln können, wäre er aus dem Staunen nicht herausgekommen. Denn der Naturforscher kannte noch keine Dinosaurier. Zwar war das erste vollständige Skelett eines Ichthyosaurus kurz nach Darwins Geburt 1812 an der Südküste Englands entdeckt worden. In seinem Werk „Über die Entstehung der Arten“ von 1859 aber erwähnte Darwin Dinosaurier mit keinem Wort. Dagegen widmete er der Lückenhaftigkeit der „geologischen Urkunden“ – also der Fossilien – ein ganzes Kapitel. Darwin schrieb: „Die Erdrinde ist ein großes Museum; aber ihre naturgeschichtliche Sammlung ist unvollständig und sagt über die bedeutenden Zeitabschnitte nichts aus.“
150 Jahre später hat die Erforschung der Fossilien erhebliche Fortschritte gemacht. Fossilien sind wichtige Dokumente für den Ablauf der Naturgeschichte. Auch lassen sich aus ihnen die dramatischen ökologischen Umwälzungen ablesen, die Tier- und Pflanzenwelt während der Erdgeschichte durchgemacht haben. Vor allem aber erweisen sich Versteinerungen als hilfreich, wenn es um die Rekonstruktion der systematischen Verwandtschaft zwischen den einzelnen Tierstämmen geht. Spätestens seit dem Beginn des Kambriums vor rund 540 Millionen Jahren sind beinahe sämtliche großen Tiergruppen nachweisbar, von den Schwämmen und Korallen über Borstenwürmer und Weichtiere bis zu den ersten Formen mit einer Rückensaite wie bei den späteren Wirbeltieren.
Nach einem Jahrhundert detaillierter Vergleiche der verschiedenen körperbaulichen Entwürfe haben Biosystematiker – jene Erben Darwins, die sich damit beschäftigen, Ordnung in die Vielfalt des Lebendigen zu bringen – immer wieder neue verwandtschaftliche Beziehungen für sämtliche Tiergruppen diskutiert. Die lange gesuchte Lösung ist jener Stammbaum, mit dem seit Darwin die Beziehungen zwischen Lebewesen grafisch dargestellt werden. Darwin hatte erkannt, dass die gemeinsamen Merkmale von Tieren und Pflanzen ihre verwandtschaftlichen Beziehungen widerspiegeln. Nicht etwa die schöpferische Hand Gottes bewirkt eine natürliche Ordnung; vielmehr ist das natürliche System eine unmittelbare Konsequenz des Evolutionsprozesses.
Heute benutzen Systematiker zur Erstellung solcher Verwandtschaftsdiagramme eine Fülle verschiedener Verfahren. Inzwischen sind die morphologischen Daten durch molekulare Analysen teilweise abgelöst worden. Daher nehmen heute die Diskussionen über die verschiedenen Analyseverfahren vor allem molekulargenetischer Datensätze immer breiteren Raum ein, wie derzeit bei einer internationalen Tagung an der Humboldt-Universität. Systematiker aus aller Welt debattieren die jüngsten Ergebnisse auf dem Gebiet der Verwandtschaftsforschung am Beispiel vielzelliger Tiere – sogenannter Metazoa.
Lange hatten sich Systematiker erhofft, dass ihnen der Sequenzvergleich direkt an der Erbsubstanz der Tiere bei ihrer Verwandtschaftsanalyse weiterhilft. Tatsächlich ist dadurch ein ganz neues Forschungsfeld entstanden, das mittels sogenannter phylogenetischer Bäume abgestufte und hierarchisch gegliederte Systeme nächst verwandter Schwestergruppen ermittelt. Allerdings verstärken sie Rätsel der Systematik durch sich widersprechende Analysen.
Bei ihrer Spurensuche sind indes auch Fossilien von großer Bedeutung, anders als Darwin noch annehmen musste. Denn erst durch einschlägige Fossilfunde wissen wir heute von den entscheidenden Entwicklungsschritten im Verlauf der Evolution der Tiere. Wie etwa im Fall eines zehn Zentimeter langen Gliedertiers, das vor 390 Millionen Jahren im Urmeer in der Region des heutigen Hunsrück gelebt hat. Es ist das fehlende Glied in der Beweiskette zur Evolution von Gliedertieren wie etwa Skorpionen und Krebsen. Das Fossil wurde Anfang Februar von dem Paläontologen Jes Rust von der Uni Bonn in „Science“ vorgestellt. Das ungewöhnliche Wesen trägt eigenartige flügelartige Fortsätze beidseits unterhalb eines großen runden Mauls. Diese könnten das im Meer lebende Tier nicht nur wie einen flügelschlagenden Pinguin unter Wasser vorangetrieben haben. Das Gliedertier schlägt auch die verwandtschaftliche Brücke zwischen den im kambrischen Urmeer vor rund 500 Millionen Jahre lebenden räuberischen Gliedertieren und ihren heutigen modernen Nachfahren.
Mit solchen Funden machen sich auch die Fossiljäger unter den Systematikern für die Evolutionsforschung unentbehrlich. Ihre Befunde dokumentieren nicht nur wichtige Abschnitte der Erdgeschichte, sondern eichen gleichsam die Verzweigungen im vielfältig verästelten Stammbaum des Lebens.
Heute spricht Jes Rust (Uni Bonn) um 19 Uhr im Institut für Biologie/Vergleichende Zoologie der Humboldt-Universität (Haus 2, Hörsaal 1) in der Philippstr. 13 über Fossilien und Evolution (in englischer Sprache). Der Eintritt ist frei.
Matthias Glaubrecht
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