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Museumsbesucher blicken auf eine Vitrinie, in der ein menschlicher Schädel zu sehen ist. Dahinter sind Bildschirme zu sehen.
© Jan Konitzki/Bild Wissen Gestaltung

Wissenschafts-Ausstellung im Gropius-Bau: Forscher im "Trainingslager für das Humboldt-Forum"

Wie stellt man Wissenschaft aus? Die Humboldt-Universität übt es im Martin-Gropius-Bau – auch für das künftige Humboldt-Forum.

Wer hat denn hier Kieselsteine abgekippt? Gleich neben den edlen schwarzen Schaukästen, in denen wertvolle Faustkeile ruhen, liegt ein riesiger Haufen Kies – wie frisch aus dem Baumarkt geholt. Der kegelförmige Berg verrät sein Geheimnis nicht. Kein Schild, keine Erläuterung. Der Betrachter ist allein mit seinen Gedanken über Natur, Symmetrie und Ästhetik.

Nur einen Schritt weiter schon der nächste Denkanstoß: Neueste chirurgische Werkzeuge, endoskopische Fass- und Greifzangen, ragen steil empor. Sie ähneln auf verblüffende Weise den Scheren der Krebse, die gleich daneben unter Glas liegen.

Für Laien erfahrbar machen, womit Forscher ihre Zeit verbringen

Wenn die Wissenschaft ihren Weg ins Museum findet, gibt es viele konzeptionelle Fragen zu beantworten: Wie soll man das, was in Dutzenden Disziplinen derzeit erforscht wird, in eine museale Präsentation zwängen? Wie bebildert man aktuelle wissenschaftliche Fragestellungen? Wie macht man für Laien erfahr- oder wenigstens erahnbar, womit Forscher ihre Zeit verbringen?

Die Steine, Tiere und Werkzeuge, die den Besucher im ersten Stock des Martin-Gropius-Baus empfangen, sind Teil eines ambitionierten Versuchs, den die Humboldt-Universität derzeit unternimmt. In der Ausstellung „+ultra. gestaltung schafft wissen“ wird die Arbeit des interdisziplinären Exzellenzclusters „Bild Wissen Gestaltung“ erstmals der Öffentlichkeit präsentiert (hier kommen Sie zum Ausstellungsportal).

Testlauf für das Humboldt-Forum

Die Schau ist auch ein wichtiger Testlauf für das im Bau befindliche Humboldt-Forum, denn das dort geplante „Humboldt-Labor“ der Universität knüpft an das Konzept des Exzellenzclusters an, die Wechselwirkung von Forschungs- und Gestaltungsprozessen zu erkunden. Dort wird die HU ab 2019 dauerhaft einen 1000 Quadratmeter großen Raum im Nordwest-Flügel des Schlosses mit Ausstellungen und Veranstaltungsreihen bespielen. „Das hier ist unser Trainingslager“, erklärt Kunsthistoriker Horst Bredekamp, Sprecher des Exzellenzclusters und neben Neil MacGregor und Hermann Parzinger Gründungsintendant des Humboldt-Forums.

Ein wilder Ritt durch mehr als 200 Jahre Wissenschaftsgeschichte

Auf den ersten Blick wirkt das Trainingslager wie eine Mischung aus Kunstgalerie und Naturkundemuseum. Hier eine Videoarbeit, dort ein Kasten mit wertvollen Artefakten. Erst auf den zweiten Blick wird der rote Faden sichtbar. „+ultra“ ist ein ebenso wilder wie hintersinniger Ritt durch mehr als 200 Jahre Wissenschaftsgeschichte. Von den Anfängen der Systematisierung und Schematisierung bis zu den digitalen und datengetriebenen Forschungen des 21. Jahrhunderts. Nicht einzelne Persönlichkeiten oder Projekte stehen dabei im Vordergrund, sondern eher übergeordnete Fragestellungen.

Die Ausstellungsräume tragen Titel wie „Form und Prozesse“, „Natur als Grammatik“ oder „Biokonstruktivismus“. Es geht um nichts weniger, als Forschungsprozesse nachzuzeichnen, Methoden zu erläutern und Erkenntniswege zu illustrieren.

Klingt abstrakt, ist es aber nicht. Überall gibt es etwas zu sehen, zu hören, anzufassen und zu bestaunen. Ähnlich wie ein guter Roman lässt sich die Wissenschaftsausstellung auf unterschiedlichen Ebenen rezipieren. Man kann kindlich staunend durch die Räume schlendern, alle Textangebote ignorieren und sich nur von beeindruckenden Formgebilden, Geräuschkulissen, begehbaren Installationen und interaktiven Angeboten in den Bann ziehen lassen. Wer am liebsten mit Smartphone in der Hand flaniert, kann ein Game nutzen und sich virtuell von Wissenschaftlern begleiten lassen. Wer Papier bevorzugt, nimmt sich eine kostenlose Broschüre vom Stapel.

Eintritt frei, weil die Ausstellung komplett aus Steuergelder finanziert ist

Der knapp 400-seitige Katalog bietet darüber hinaus ausreichend Stoff für ein interdisziplinäres Selbststudium. Und noch eine aktuelle Debatte des Wissenschaftsbetriebs greift die Ausstellung indirekt auf. Weil „+ultra“ komplett aus Steuergeldern finanziert wurde, ist der Eintritt frei. Der Open-Access-Gedanke ist hier nicht nur frommer Wunsch, sondern bereits universitäre Wirklichkeit.

„Wir wollen unterschiedliche Vermittlungsformate ausprobieren“, erklärt Kuratorin Nikola Doll. Auch in Hinblick auf das Humboldt-Forum will die HU ihr Publikum besser kennenlernen. Denn der Anspruch ist hoch: Einerseits soll die Ausstellung möglichst niedrigschwellig sein, also für Berliner Familien ebenso wie für Touristen, Studierende oder interessierte Wissenschaftler aus aller Welt funktionieren. Andererseits will man auf keinen Fall die Komplexität von Forschung vereinfachen und auf banale Aussagen herunterbrechen. „Das wäre ein falscher museumspädagogischer Ansatz“, betont Bredekamp.

Kleines Manteltierchen ganz groß

Statt plumper Vereinfachungen bietet die Ausstellung eine überwältigende Fülle von Querverweisen. Sie stellt physiognomische Studien aus dem 18. Jahrhundert neuester Gesichtserkennungssoftware gegenüber. Ergänzt ein laufendes Hundeskelett mit einem vierbeinigen Robotermodell. Vergrößert das winzige Manteltierchen, das auf dem Meeresboden lebt, und studiert in Ingenieursmanier das geniale Konstrukt seines filigranen Körpers. Zeigt Forschung zu Kraft und Flexibilität – an Stahlbauelementen ebenso wie an Knochen. Lässt Hornissennester und Kunstobjekte aus dem 3-D-Drucker für sich sprechen. Präsentiert fraktale und organische Formen und zeigt, wie sie Architektur und Stadtplanung beeinflusst haben.

In der Ausstellung wird ein Manteltierchen großflächig projiziert - als Beispiel moderner bildgebender Verfahren in der Wissenschaft.
Publikumsliebling. In der Ausstellung wird ein Manteltierchen großflächig projiziert - als Beispiel moderner bildgebender Verfahren in der Wissenschaft.
© Promo

Sogar die Besucher werden Teil der zu untersuchenden Materie. Wer in eine Kamera wilde Grimassen schneidet, dessen Videosequenz wird bei Zustimmung direkt in eine wissenschaftliche Datenbank eingespeist. Sie dient Psychologen zur Emotionsforschung. Doch will man das überhaupt: aufgenommen, abgespeichert und vermessen zu werden? Wo endet hehre Wissenschaft und wo beginnt unerwünschte Überwachung?

Leibniz wäre begeistert: Alles ist um 2,8 Grad verschoben

Auch vor solchen brisanten Fragen macht die Ausstellung nicht halt. Irritationen sind ein erwünschter Nebeneffekt. „Das ist eine schräge Ausstellung“, erklärt Kuratorin Doll. Und das stimmt auch im Wortsinn: Kein Schaukasten, keine Stange, kein Objekt hängt oder steht parallel zu den Raumwänden. Alles ist um exakt 2,8 Grad verschoben.

Die Idee stammt von raumlabor berlin, den Ausstellungsgestaltern. Zunächst war das gestalterische Detail gar nicht als wissenschaftliche Reminiszenz gemeint. Aber dann fand sich sogar noch der passende theoretische Überbau. Den liefert in diesem Fall der große Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz, der sowieso in keiner Berliner Wissenschaftsausstellung fehlen darf. Seine Perzeptionstheorie besagt, dass eine Abweichung im Winkel von 2,8 Grad zwar noch unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegt, aber dennoch eine dynamische Wirkung hat. Hier ist etwas in Bewegung gekommen, vermittelt der Raum dem Menschen. „Man nimmt die Abweichung unbewusst wahr“, sagt Doll.

Ein Wiedersehen mit dem einen oder anderen Exponat?

Auch im Humboldt-Forum darf und soll es solche schrägen Ideen und Präsentationsformen geben. Allerdings werden die dortigen Wissenschaftsausstellungen in Größe und Ausmaß nicht an die umfangreiche „+ultra“-Präsentation im Martin-Gropius-Bau heranreichen. Der aktuellen Ausstellung ist eine zweijährige Vorbereitungszeit vorausgegangen; das wird im Tagesbetrieb des Humboldt-Forums nicht zu leisten sein. „Wir werden dort vermutlich drei kleinere temporäre Ausstellungen pro Jahr zeigen“, sagt Bredekamp. Vielleicht gibt es mit dem ein oder anderen Exponat dennoch ein Wiedersehen. Festlegen wollen sich die Kuratoren noch nicht. Aber schon jetzt kristallisieren sich Publikumslieblinge heraus. Das große kleine Manteltier gehört auf jeden Fall dazu.

Die Ausstellung „+ultra. gestaltung schafft wissen“ ist noch bis zum 8. Januar 2017 im Martin-Gropius-Bau zu sehen (Mi. bis Mo. von 10 bis 19 Uhr; Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin).

Astrid Herbold

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