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Foto:SPL
© CRISTINA PEDRAZZINI/SCIENCE PHOT

Essen und Wissenschaft: Forscher erkunden das Geheimnis des Geschmacks

Warum Menschen manche Gerichte lieben und andere nicht, ist schwer zu erklären. Forscher beginnen das Rätsel zu entschlüsseln – mit Artischockenpüree und Räucherlachs-Eiscreme.

Als der dänische Forscher Per Møller vor einigen Jahren in den USA war, probierte er einen bekannten Schokoriegel. Wenn er daran zurückdenkt, verzieht er sein Gesicht. „Der hat furchtbar geschmeckt, wie Erbrochenes“, sagt er. Seine US-Kollegen dagegen mochten den Snack. Das Erlebnis zeige, wie schlecht wir immer noch verstünden, warum manche Dinge großartig schmecken und andere abstoßend, sagt Møller – und warum Menschen dabei so unterschiedlicher Meinung sein können.

Møller gehört zu einer wachsenden Gruppe von Wissenschaftlern, die versuchen, diese Fragen zu beantworten. Sie beginnen Forschungsergebnisse aus Genetik, Psychologie und Physiologie zu einem Bild zusammenzusetzen, wie Gene, Rezeptoren, Nervenzellen und Erfahrungen zusammenwirken, um im Gehirn einen Geschmack entstehen lassen.

Menschen werden mit einer Vorliebe für Süßes und Fettiges und einer Abneigung gegen Bitterstoffe geboren. Aber es ist ein Rätsel, weshalb manche Lebensmittel zusammen besonders gut schmecken, wie Steak und Sauce Bearnaise oder Gin und Tonic und weshalb manche Menschen den Geschmack von Campari oder Koriander mit der Zeit lieben lernen und andere nicht. Katrin Ohla vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam sieht eine weitere Lücke: Der gesamte Weg, den ein Geschmacksreiz nimmt, von dem Augenblick, in dem das Essen die Zunge berührt bis der Mensch entscheidet, ob es furchtbar oder vorzüglich schmeckt, sei unzureichend erforscht, sagt sie.

„Im Vergleich zu anderen Sinnen ist der Geschmackssinn kaum untersucht“, sagt Ohla. Umami, neben süß, sauer, salzig und bitter, die fünfte Geschmacksqualität, wurde erst im 20. Jahrhundert entdeckt. Und Forscher suchen noch immer nach weiteren Rezeptoren etwa für Fett oder Magnesium- und Kalzium-Ionen. Erst im Februar fand eine Gruppe von Forschern heraus, warum zu viel Salz in der Suppe nicht schmeckt: In hohen Konzentrationen aktiviert Salz die Bitter- und Sauer-Rezeptoren auf der Zunge, vermutlich ein Schutzmechanismus, um eine gefährlich hohe Einnahme von Salz zu verhindern.

In den vergangenen Jahren haben Wissenschaftler auch eine Reihe von Genvarianten im menschlichen Erbgut ausgemacht, die beeinflussen, wie Menschen bestimmte Lebensmittel wahrnehmen: zum Beispiel eine Mutation, die beeinflusst, wie „seifig“ Koriander schmeckt, oder eine, die darüber entscheidet, ob ein Mensch den Bitterstoff Phenylthiocarbamid schmecken kann.

Aber genetische Unterschiede erklären nur einen kleinen Teil der großen Geschmacksfrage, sagt die Genetikerin Danielle Reed vom Monell Chemical Senses Center in Philadelphia in den USA. Sie vergleicht Schmecken mit Sehen. Es gebe zwar individuelle Unterschiede in der Farbwahrnehmung, und ein Farbenblinder finde ein impressionistisches Gemälde unter Umständen weniger ansprechend. „Aber insgesamt bestimmt unser Sehsinn nicht, welche Art von Kunst wir mögen“, sagt Reed. „Dasselbe gilt für den Geschmack.“ Tatsächlich erklärt die Genvariante, die den Geschmack von Koriander beeinflusst, den Forschern zufolge nur etwa ein halbes Prozent der unterschiedlichen Wahrnehmung von Koriander von Mensch zu Mensch.

Geschmack ist auch deshalb so schwierig zu erforschen, weil er viel mehr umfasst als nur Moleküle, die von Geschmacksrezeptoren auf der Zunge wahrgenommen werden. Schluckt ein Mensch einen Bissen herunter, so wird hinten in der Mundhöhle etwas Luft nach oben in die Nasenhöhle gepresst, wo Geruchsrezeptoren sitzen. Diese retronasale Aromawahrnehmung spielt eine wichtige Rolle. „Wir haben früher geglaubt, das sei dasselbe wie Riechen, aber das Gehirn registriert, von wo der Geruch kommt und schickt das Signal an einen anderen Ort“, sagt die Psychologin Linda Bartoshuk vom Zentrum für Geruch und Geschmack der Universität von Florida in Gainesville. Geschmack entstehe im Gehirn, indem die Signale von der Zunge mit denen der retronasalen Aromawahrnehmung kombiniert würden, sagt sie.

Wie wichtig die flüchtigen Aromastoffe sind, zeigt ein Experiment von Bartoshuk mit Tomaten. Testpersonen empfanden eine Tomatenart namens „Matina“ als doppelt so süß wie eine Tomatenart namens „Yellow Jelly Bean“, obwohl sie weniger Zucker enthält. Das liege daran, dass die „Matina“ sechs Aromastoffe enthalte, die die Wahrnehmung von Süße verstärken, erklärt Bartoshuk.

„Wir lernen zu mögen, was wir essen“

Auch so schwer zu messende Dinge wie Erwartungen beeinflussen, wie etwas schmeckt. In einem Experiment hat Ohla Teilnehmern zunächst Fotos von kalorienreichem oder kalorienarmem Essen gezeigt und ihnen hinterher kurz elektrischen Strom durch die Zunge geleitet, um einen standardisierten, leicht metallischen Geschmacksreiz auszulösen. Teilnehmer, die Bilder von kalorienreichem Essen gesehen hatten, beschrieben den Geschmack positiver als Teilnehmer, die Bilder von kalorienarmem Essen gesehen hatten. Auch Farbe und Temperatur des Essens seien wichtig, sagt Ohla. „Es ist, als würden wir uns nicht auf unseren Geschmackssinn allein verlassen können.“

Sogar Besteck und Geschirr beeinflussen, wie etwas schmeckt. Menschen essen im Schnitt weniger, wenn das Essen auf einem roten Teller angerichtet ist. Die gleiche heiße Schokolade schmeckte Studienteilnehmern in einer orangefarbenen Tasse intensiver und in einer cremefarbenen süßer als in einer weißen Tasse. Und Psychologen der Universität Oxford haben in einer Studie, die diese Woche im Fachblatt „Flavour“ veröffentlicht wurde, verschiedene Löffel getestet. Das Ergebnis: Testpersonen, die Joghurt von einem leichten Teelöffel aßen, schmeckte der Joghurt besser als Testpersonen, die ihn von einem ungewöhnlich schweren Teelöffel aßen. Möglicherweise übersetze unser Gehirn die ungewohnte Erfahrung in einen unangenehmen Geschmack, schreiben die Autoren.

Wichtiger als das Besteck ist allerdings, wie häufig wir mit einem bestimmten Essen in Berührung gekommen sind. In einem Experiment gab Møller zwei und drei Jahre alten Kindern pürierte Artischocken, ein Gemüse, das sie vorher noch nie gegessen hatten. Über zehn Sitzungen gab Møller den Kindern entweder das normale Püree, eine gesüßte Variante oder eine, die mit Sonnenblumenöl verfeinert war. Der Gedanke: Durch die Verbindung mit der Süße oder der Energiedichte des Öls würden Kinder lernen, das Püree zu mögen. Doch am Ende des Experiments waren die Kinder, die das unveränderte Püree bekommen hatten, die größten Fans. „Wir lernen zu mögen, was wir essen“, sagt Møller – was auch der Grund sein könnte, warum seine US-Kollegen den Schokoriegel mochten, den er so abstoßend fand.

Diese Art des Lernens beginnt schon im Mutterleib: Mehrere Studien haben gezeigt, dass Babys, deren Mütter während der Schwangerschaft Anis oder Knoblauch gegessen haben, eine höhere Akzeptanz für diese Lebensmittel haben. Das hilft den riesigen Einfluss zu erklären, den die Kultur auf unsere Essgewohnheiten hat. Auch evolutionsbiologisch ist es nicht überraschend, dass Geschmack konservativ ist. „Sie brauchen ein System, dass Sie davor schützt, Lebensmittel zu essen, die Sie vergiften und umbringen können“, sagt Møller. Viele dieser Giftstoffe schmecken bitter und deshalb sei eine natürliche Abneigung gegen Bitterkeit in unserem Gehirn fest verankert.

Immer mehr Geschmacksforscher suchen die Zusammenarbeit mit Gastronomen. Møller hat vergangenes Jahr das Fachjournal „Flavour“ gegründet, das nicht nur Beiträge von Wissenschaftlern veröffentlicht, „sondern auch von der wachsenden Zahl von Köchen und anderen Lebensmittelprofis, die Wissenschaft in ihre Küchen holen.“ Und Psychologen der Universität Sussex in Großbritannien taten sich mit dem renommierten Chef-Koch Heston Blumenthal zusammen, um zu untersuchen, wie Menschen auf eine Eiscreme mit Räucherlachsgeschmack reagieren. (Es schmeckte ihnen besser, wenn sie wussten, was sie erwartet.)

Langfristig könnte die Erforschung des Geschmackssinns Köchen dabei helfen, leckereres Essen zu kochen, glaubt Møller: „Die Römer haben Brücken gebaut, aber sie wussten nichts von Newtons Mechanik. Wir schon und deshalb können wir gigantische Brücken bauen, die nicht einstürzen.“ Genauso habe die Menschheit Paella und Pizza entwickelt, ohne zu wissen, warum sie so gut schmecken. Würden Küchenchefs die Prinzipien des Geschmacks kennen, könnten sie größere und gewagtere Gerichte entwerfen, sagt Møller. Und vielleicht sogar einen Schokoriegel, der allen schmeckt.

Kai Kupferschmidt

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