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Zwei Schülerinnen stehen in einer Schulklasse und lesen gemeinsam von einem Zettel ab.
© picture alliance / dpa

Inklusion: Förderschulen müssen aufgelöst werden

Das deutsche Nebeneinander von Förder- und Regelschulen widerspricht der UN-Behindertenrechtskonvention, erklärt ein Experte am Berliner Wissenschaftszentrum.

Bund und Länder wollen, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderungen weiterhin auch an Sonder- und Förderschulen unterrichtet werden. Begründet wird dies mit dem „natürlichen Recht der Eltern“, über Erziehung und Bildung ihrer Kinder zu entscheiden. Sie müssten die Wahl haben, ihr Kind auf eine Regelschule oder auf eine Sonder- oder Förderschule zu schicken. Diese Auffassung hätten Bund und Länder in einer Stellungnahme gegenüber dem zuständigen Fachausschuss der Vereinten Nationen vertreten, berichtet Michael Wrase, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), in einer juristischen Expertise.

Jurist Wrase widerspricht dieser Sichtweise: „Die Berufung auf ein angebliches ,Elternwahlrecht‘ zwischen inklusiver und gesonderter Beschulung“ sei mit der UN-Behindertenrechtskonvention „unvereinbar“. Die Länder seien durch die 2009 von Deutschland unterzeichnete Vereinbarung vielmehr dazu verpflichtet, „ein hochwertiges inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen zu gewährleisten“. An einer schrittweisen Auflösung der Förderschulen führe kein Weg vorbei.

Elternwahlrecht? Über Jahrzehnte galt die Sonderschul-Pflicht

Kindern mit Behinderungen müssten demnach ein uneingeschränkter Zugang zu den allgemeinen Schulen sowie die individuell benötigte pädagogische Unterstützung und Förderung garantiert werden, betont Wrase. Dass sich Bund und Länder in ihrer Stellungnahme vom Januar 2016 auf das Elternrecht einer freien Wahl der Schulform berufen, sei widersprüchlich. Über viele Jahrzehnte habe die Pflicht gegolten, Kinder mit Behinderungen an Sonderschulen zu unterrichten – ausgehend vom Reichsschulpflichtgesetz von 1938. Tatsächlich gab es in der Bundesrepublik erst seit Anfang der 70er Jahre erste Schulversuche zur Aufnahme von Kindern mit Behinderungen an Regelschulen. Ein ausdrückliches Recht auf schulische Inklusion wurde dann schon vor Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention mit dem seit 1994 geltenden Zusatz zum Grundgesetzartikel 3 gewährt: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

Ein Elternrecht auf eine gesonderte Beschulung ließe sich dagegen nicht mit dem Grundgesetz begründen, schreibt Wrase. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von 1997, nach der die Beschulung an Sonder- oder Förderschulen wegen der dort geleisteten sonderpädagogischen Förderung nicht diskriminierend sei, ist laut Wrase mit Inkrafttreten der UN-Konvention „nicht mehr aufrechtzuerhalten“. Ein echtes Wahlrecht würde zudem voraussetzen, dass die Kinder an Regelschulen durchgehend ebenso gut gefördert werden wie an Sonder- oder Förderschulen. Dies sei aber noch lange nicht der Fall.

Länder müssen Regelschulen angemessen ausstatten

Kritisch sieht der WZB-Forscher auch die aktuell in verschiedenen Landesschulgesetzen verankerten Vorbehalte: Schulen müssten Kinder mit Behinderungen nur dann aufnehmen, wenn sie über entsprechende personelle Ressourcen und bauliche Voraussetzungen verfügen. Auch dies sei mit der UN-Konvention unvereinbar, schreibt Wrase. Die im Land vorhandenen Ressourcen müssten so umgeschichtet werden, dass alle betroffenen Kinder an Regelschulen unterrichtet werden können. Ein Doppelangebot der Schularten aufrechtzuerhalten, bedeute in diesem Zusammenhang einen unrealistischen Mehraufwand für die Länder.

Bislang sei die Umsetzung der UN-Konvention im Schulbereich „halbherzig“, resümiert Wrase. Deutschland laufe Gefahr, von der nationalen Monitoringstelle und von den UN-Ausschüssen gerügt zu werden. Auch sieht er Klagemöglichkeiten für Eltern.

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