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Schlechter Flieger. Der Hoatzin lebt vor allem in den Regenwäldern des nördlichen Südamerika. Er wird gut einen halben Meter lang und knapp ein Kilogramm schwer. Seine Flugkünste sind begrenzt, er gleitet eher.
© Edson Endrigo

Biologie: Flügellahm über den Atlantik

Bereits vor Jahrmillionen erreichte der aus Afrika stammende Hoatzin den südamerikanischen Kontinent – möglicherweise auf einem natürlichen Floß.

Elegant wirkt der Vogel nicht: Weil Hüpfen oder Laufen im dichten Geäst schwierig ist, kriecht das „Hoatzin“ genannte Tier von der Größe eines Haushuhns meist durch die Bäume entlang der Gewässer im südamerikanischen Amazonasbecken. Seine Flugkünste sind bestenfalls mangelhaft, spätestens nach ein paar hundert Metern Luftweg landet ein Hoatzin wieder. Und doch sollen die Vorfahren dieser Vögel einst von Afrika aus den Atlantik überquert haben. Das vermuten Gerald Mayr vom Forschungsinstitut Senckenberg in Frankfurt am Main und seine Kollegen aus Frankreich und Brasilien in der Onlineausgabe der Fachzeitschrift „Naturwissenschaften“.

Diese abenteuerliche Atlantiküberquerung ist Jahrmillionen her. Die Forscher rekonstruierten die Reise mithilfe versteinerter Vogelknochen, die im Südosten Brasiliens und im afrikanischen Namibia gefunden wurden. „Beide Arten waren erstaunlich eng mit den heute lebenden Hoatzins verwandt“, erklärt Gerald Mayr. Der 23 Millionen Jahre alte Oberarmknochen eines Hoatzin-Verwandten aus dem heutigen Brasilien war fast identisch mit den entsprechenden Flügelknochen der heute im Amazonasgebiet lebenden Art Opisthocomus hoazin. Er ähnelte auch sehr dem 17 Millionen Jahre alten Oberarmknochen aus Namibia.

Leben auf dem Wasser. Diese Inseln schwimmen einschließlich ihrer Bewohner und Häuser auf dem Titicaca-See. Womöglich verhalfen solche natürlichen Pontons auch Tieren über den Atlantik.
Leben auf dem Wasser. Diese Inseln schwimmen einschließlich ihrer Bewohner und Häuser auf dem Titicaca-See. Womöglich verhalfen solche natürlichen Pontons auch Tieren über den Atlantik.
© Roland Knauer

Diese Knochen zeigen einem Vogelfossilienspezialisten wie Gerald Mayr, wie gut das Tier einst fliegen konnte: „Weit war es mit den Flugkünsten beider Arten nicht her.“ Die bescheidene Manövrierfähigkeit der Hoatzin-Verwandtschaft wiederum hängt eng mit der Ernährung dieser Vögel zusammen: Sie fressen praktisch nur Grünzeug. Vor allem wandern Blätter in den Schnabel, dazu kommen noch deutlich geringere Mengen an Blüten und Früchten.

Reine Vegetarier sind in der Vogelwelt selten. Denn viele Blätter sind giftig; es dauert einige Zeit, bis sie verdaut sind. Genau wie ein Rind, das das einmal gefressene Gras ebenfalls lange im Bauch behält, schleppt ein Hoatzin relativ viel Nahrung in seinem Körper mit sich herum. Das macht diese Art deutlich schwerer als ähnlich große Vögel, die nach schnell verdaulichen Insekten oder anderem Kleingetier picken, die ohnehin viel mehr Energie enthalten. Wer fliegen will, sollte auf seine Linie achten.

Um das schwer verdauliche Grün gut verwerten zu können, hat der Hoatzin einen extrem großen Kropf. Während andere Vögel in diesem sackförmigen Organ die Nahrung nur einweichen, bevor sie in den Magen kommt, ist der Hoatzin-Kropf ein echtes Verdauungsorgan. Dort leben viele Bakterien, die den Organismus beim Zersetzen von Blättern, Blüten und Früchten unterstützen. Ein ähnliches System haben Wiederkäuer wie zum Beispiel Rinder und Schafe entwickelt. Bei ihnen sitzt vor dem Magen der Pansen, in dem ebenfalls Bakterien die Zellulose aus Gräsern und Blättern vergären. Säugetiere ohne einen solchen Vormagen können Grünzeug dagegen kaum verwerten. Auch Menschen haben mehr Appetit auf nahrhafte Früchte und Knollen als auf Blätter und Gras.

Während es bei den Säugetieren eine ganze Reihe von Wiederkäuern mit Pansen gibt, kennen Ornithologen die Verdauung im Kropf nur beim Hoatzin. Zusammen mit der Speiseröhre ist der Kropf bei dieser Art fünfzig Mal größer als der Magen. „Dadurch verändert sich der gesamte Brustbereich erheblich“, erklärt Gerald Mayr weiter: „Die Flugmuskeln am Brustbein können viel schlechter als bei geschickten Fliegern ansetzen.“ So muss ein Hoatzin spätestens nach wenigen hundert Metern in der Luft wieder zum Landen ansetzt.

Einmalig ist nicht nur die Spezialisierung auf vegetarische Ernährung zulasten der Flugkünste, auch die Verwandtschaftsverhältnisse des Hoatzins geben Ornithologen Rätsel auf. Analysen des Erbgutes liefern keine klaren Hinweise auf nähere Verwandte. Körperbau und Physiologie geben ebenfalls keine überzeugenden Ergebnisse. Die jetzt analysierten Fossilien aus Brasilien und Namibia sind daher unter Vogelforschern auch eine Sensation. Denn lebende Hoatzins kennen Wissenschaftler genau wie die äußerst seltenen versteinerten Knochen ihrer Urahnen aus grauer Vorzeit nur aus Südamerika. Die 17 Millionen Jahre alten Knochen aus Namibia hatten Forscher bisher kranichartigen Vögeln zugerechnet. Erst die neue Analyse identifizierte sie als Hoatzin-Verwandte.

Damit haben Evolutionsbiologen ein großes Problem: Wenn eng verwandte Arten einer so einzigartigen Vogelgruppe auf zwei verschiedenen Kontinenten leben, die bereits seit mehr als hundert Millionen Jahren durch ein Meer getrennt sind, dann müssen die Tiere irgendwie über diese riesige Wasserfläche gekommen sein. Nach Lage der Dinge entwickelten sich die Hoatzins entweder in Südamerika oder in Afrika und Asien. „Eine parallele Entwicklung auf beiden Seiten des Atlantiks ist praktisch ausgeschlossen“, fasst Gerald Mayr die vertrackte Situation zusammen.

Selbst für das Festland typische Vögel wie Spechte oder Papageien – die viel besser fliegen können als ein Hoatzin – schaffen es kaum, über ein mehr als tausend Kilometer breites Meer zu fliegen. Andererseits haben auch Arten wie Affen und die Stachelschwein-Verwandtschaft den Sprung von Afrika nach Südamerika vor 20 oder 30 Millionen Jahren ohne Flügel geschafft. Das beweisen sowohl Fossilienfunde als auch Analysen des Erbguts. Demnach entstanden in dieser Zeit aus den afrikanischen Affen die Neuweltaffen und aus den Stachelschweinen die Meerschweinchen-Verwandtschaft Südamerikas.

Auf die Spur dieser geheimnisvollen Atlantikpassage kamen die Forscher, als sie sich mit „schwimmenden Inseln“ befassten. So flechten zum Beispiel die Menschen des Uru-Volkes aus Schilf Inseln, die mehr als hundert Meter lang und breit auf dem Titicaca-See in Südamerika schwimmen. Auf diesen Inseln bauen sie nicht nur ihre Häuser aus Schilf, sondern legen auch Felder an. Vergleichbare Inseln entstanden auch auf den Arberseen im Bayerischen Wald, als sich verfilzte Moorflächen vom Ufer lösten und seither auf beiden Seen schwimmen. In der Natur der Tropen entstehen ähnliche Inseln an den großen Flüssen, wenn Unwetter Pflanzenmassen von den Ufern abreißen, die dann auf den Fluten treiben. Solche schwimmenden Inseln landen schließlich im Meer und werden dort von den Strömungen weiter getragen.

Nach Kalkulationen der Forscher könnten solche natürliche Riesenflöße vor zwanzig oder dreißig Millionen Jahren in nicht einmal drei Wochen von Afrika nach Südamerika getrieben sein. Saßen auf diesen Inseln zufällig Affen oder Stachelschweine, könnten diese Pflanzenfresser die Passage gut überstanden haben, schließlich gab es auf der Insel genug Nahrung. In Südamerika angekommen, begründeten diese Passagiere dann den Stammbaum der heutigen Neuweltaffen und Meerschweinchen.

Eine solche Passage auf einer schwimmenden Insel kommt auch für die Hoatzin-Verwandtschaft infrage. „Wenn sie einmal auf einer solchen schwimmenden Insel sind, dann werden die schlechten Flieger sie kaum wieder verlassen“, erklärt Senckenberg-Forscher Gerald Mayr weiter. Da die Strömungen damals wie heute ein schwimmendes Floß zwar von Afrika nach Südamerika, aber keinesfalls in die umgekehrte Richtung tragen können, scheint auch die Herkunft der Hoatzins geklärt: Sie sollten aus der Alten Welt und damit aus Afrika oder Asien stammen und als blinde Passagiere auf einem Floß nach Südamerika gereist sein.

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