Nancy Fraser: Expertin für Gerechtigkeit
Die US-Politologin Nancy Fraser besucht Berlin als Einstein Visiting Fellow. Ihr Thema: Die Krise der amerikanischen Demokratie. Sie erforscht, wie Menschen partizipieren können, denen die Gesellschaft einen geringeren Status zuweist - wie Homosexuelle oder Migranten.
„Widerspenstige Praktiken“, der trotzige Titel ihres Buches über „Macht, Diskurs, Geschlecht“ von 1989, will auf den ersten Eindruck so gar nicht zu dieser kleinen, feinen Person passen. Eine elegante Dame in Weinrot schreitet durch das John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität und posiert vor der Bücherwand ergeben für das Pressefoto. Eine freundliche, warme Aura umgibt Fraser, die sich bei Kaffee und Keksen schließlich ins Gespräch verwickeln lässt. Und da ist es auf einmal: das Widerspenstige. Fraser, gern als eine der bedeutendsten Intellektuellen unserer Tage gehandelt, macht ihrem Ruf als Expertin für ungemütliche Gerechtigkeitsfragen alle Ehre.
Seit kurzem ist die Politikwissenschaftlerin der New School of Social Research in New York als Einstein Visiting Fellow an der Graduiertenschule für Nordamerikastudien der FU. Umverteilung und Anerkennung sind die Schlagworte, die mit ihr gemeinhin assoziiert werden und die sich als roter Faden durch ihr Werk ziehen. Seit jeher gilt das Augenmerk der 1947 geborenen Fraser den Überschneidungslinien von mehreren Achsen der Ungerechtigkeit und den Möglichkeiten sozialer Teilhabe von Menschen, denen die Gesellschaft einen geringeren Status zuweist, wie Frauen, Homosexuellen oder Migranten. Unter marx- und poststrukturalismusgeschulten Linken, Feministinnen und beim Nachwuchs der Kritischen Theorie gilt sie längst als Klassikerin.
Gemeinsam mit dem John-F.-Kennedy-Institut (JFKI) hatte sich die Graduiertenschule bei der Einstein-Stiftung beworben, um Fraser nach Berlin zu holen. Bis zu 150 000 Euro jährlich lässt sich die Einstein-Stiftung den Think Tank Fraser kosten. Die Politologin bleibt zwar für die zweijährige Dauer des Fellowships weiterhin ihrer Heimatuniversität zugehörig, wird für Vorträge, Workshops und schließlich einen mehrmonatigen Aufenthalt im Herbst 2012 jedoch regelmäßig in Berlin sein. „Die Krise der amerikanischen Demokratie“ lautet das Thema, das in den nächsten Monaten neben Fraser auch drei Postdoktoranden in einer Arbeitsgruppe erforschen wollen.
Wie es ihr denn dieser Tage ergehe, der Demokratie..., geht die Frage an Fraser, doch da schreitet sie schon ein. Mit einer kleinen, aber energischen Handbewegung stellt sie das eingefahrene Krisendenken auf den Kopf: Man dürfe sich Europa und die USA nicht einfach als Maschine vorstellen, die gerade in all ihre verrosteten Einzelteile zerfällt. „Wir können uns ein Krisenmoment auch als Wendepunkt vorstellen, an dem etwas akut wird und sich tiefere strukturelle Probleme verdichtet wahrnehmen lassen“, sagt Fraser. Und im Übrigen: „Wir haben es weniger mit einer Krise des Kapitalismus zu tun, als eher mit einer Krise der grundlegenden Faktoren, auf denen der Kapitalismus beruht.“ Der Neoliberalismus sei in den Menschen derart eingesickert, dass er sämtliche menschlichen und ökologischen Bereiche zunehmend unter ihrem Nutz- und Marktwert betrachte. Vergessen werde dabei „unsere Fähigkeit, soziale Bande der gegenseitigen Anerkennung und Solidarität zu knüpfen“, gibt Fraser zu bedenken.
Das Thema treibt sie schon lange um. „Die halbierte Gerechtigkeit“ lautet der Titel ihrer wegweisenden Studie von 1997. In ihr untersucht sie das sogenannte Umverteilungs-Anerkennungs-Dilemma bestimmter sozialer Gruppen, der ein Mensch angehört. Wer ökonomisch benachteiligt ist, dem hilft Umverteilung. So können auch Kinder mit armen Eltern in Deutschland eine Schule besuchen, weil die Gemeinschaft das finanziert.
Wer sozial oder kulturell abgewertet und marginalisiert wird, benötigt jedoch nicht ökonomische Umverteilung, sondern Anerkennung. So sind Homosexuelle gesellschaftlicher Verachtung ausgesetzt, manchmal auch körperlicher Gewalt. „Die Überwindung von Homosexuellenfeindlichkeit und Heterosexismus verlangt einen Wandel kultureller Wertungen“, schreibt Fraser.
Was aber, wenn ein Mensch einer „zweiwertigen“ Gruppe angehört, also „sowohl unter sozioökonomischen Verteilungsmängeln als auch unter kultureller Missachtung“ leidet? Fraser nennt als Musterbeispiel die Differenzierung nach Geschlecht. Mit der Frauenquote ließe sich dann zwar die Verteilung von Jobs und Lohn gerecht gestalten. Ob jemand „Frau“ ist, würde dann in der Arbeitswelt keine Rolle mehr spielen. Doch die Mängel bei der gesellschaftlichen Anerkennung der Frau könne die Umverteilungsstrategie nicht beseitigen. Sie wäre weiterhin Abwertungen ausgesetzt – seien es sexuelle Übergriffe, klischeehafte Darstellungen in der Werbung oder ihre prinzipielle Unterordnung unter androzentrische Normen (der Mensch als Mann, die Frau als ‚das Andere’). Eine alleinige Umverteilungsstrategie würde die Anerkennungsmängel also nur verschleiern und ihr Ziel radikal verfehlen.
Kulturelle, soziale, politische, ökonomische Missstände und ihre jeweiligen Faktoren (wie Geschlecht, nationale Zugehörigkeit, Bildungsgrad) sind kaum jemals säuberlich voneinander zu trennen. „Sie sind vielmehr ineinander verschlungen“, schreibt Fraser, die sich darüber eine vielbeachtete Kontroverse mit dem Sozialphilosophen und Habermas-Schüler Axel Honneth geliefert hat. Philosophie und Politik müssten sich diesem Verschlungenen gedanklich und analytisch stellen: „Es geht darum, immer mehr als einen Ball in der Luft zu halten“, sagt Fraser.
Gerade in „Occupy Wallstreet“ sieht sie daher eine „extrem interessante und hoffnungsvolle Bewegung“. Der Spruch „This is what democracy looks like“, der derzeit weltweit auf vielen Plakaten zu lesen ist, sei Zeichen dafür, dass die Menschen Demokratie verstärkt ausleben und als ihr ureigenes Feld besetzen wollten. „This is early days. Es ist noch früh“, sagt Fraser: „Da wird noch was passieren“, wagt sie einen Blick in die politische Zukunft. Dann springt sie auf, bedankt sich schnell noch für das gemeinsame Bällejonglieren und eilt davon. Der nächste Vortrag wartet.
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