Wissen: Evolution des Geistes
Der Mensch ist intelligent, aber damit keineswegs allein. Im Tierreich hat sich intelligentes Verhalten mehrfach unabhängig voneinander entwickelt
Menschen fühlen sich seit jeher den Tieren geistig-intellektuell weit überlegen. Lang ist die Liste angeblich „einzigartiger“ menschlicher Fähigkeiten wie Bewusstsein, Werkzeugherstellung, Moral, Selbstreflexion, Religiosität und Sprache. Jedoch haben in den vergangenen 20 Jahren Verhaltensforscher, Psychologen und Neurobiologen Forschungsergebnisse vorgelegt, die diese Einzigartigkeit immer mehr infrage stellen. Es gibt inzwischen keine geistig-intellektuelle Fähigkeit des Menschen, zu denen Forscher nicht Vorstufen im Tierreich gefunden haben, und zwar auch bei entfernt verwandten Tiergruppen wie Kraken, Rabenvögeln und Delfinen. Es scheint ein evolutionäres Kontinuum des Geistes gegeben zu haben, wie es Charles Darwin 1871 in seinem Alterswerk „Die Abstammung des Menschen“ vertrat, und nicht eine „Fulguration“, einen Blitzschlag des Geistes, irgendwann im Laufe der Entwicklung vom Affen zum Menschen, wie etwa Konrad Lorenz und Karl Popper meinten und viele Philosophen auch heute noch.
Nervensysteme und Gehirne sind ein Produkt der Evolution. Wenn – wie Neurowissenschaftler nachgewiesen haben – geistig-intellektuelle Leistungen unabdingbar an Hirnprozesse gebunden sind, dann müsste es eine Ko-Evolution von Gehirnen und geistigen Leistungen geben. Beide müssten den bekannten Prinzipien der Evolution unterliegen, mit dem Resultat, dass der „besser Angepasste“ sich durchsetzt. Versucht man aber diesen Prozess der Ko-Evolution von Gehirn und Geist genauer zu rekonstruieren und seine Mechanismen zu ergründen, so stößt man schnell auf Fakten, die so gar nicht mit dem herkömmlichen Bild der Evolution vereinbar zu sein scheinen und zugleich ein neues Licht auf die Natur des menschlichen Geistes werfen.
Die erste Einsicht lautet, dass man gar kein Nervensystem oder Gehirn benötigt, um erfolgreich zu sein. Die zahlreichsten und erfolgreichsten Lebewesen auf unserer Erde, die Einzeller, haben kein Nervensystem. Die meisten Tierstämme besitzen nur ein sehr einfaches Nervensystem, bestehend aus einem Schlundring und davon ausgehenden Nervensträngen, die mit Sinnesorganen, Eingeweiden, Drüsen und Muskeln verbunden sind – und sie überleben seit 600 Millionen Jahren bestens damit. Überraschend wenige von ihnen, meist räuberische Arten, haben komplexere Sinnesorgane und parallel dazu aus dem Schlundring ein mäßig komplexes Gehirn entwickelt. Deutlich mehr Arten haben dagegen ihr mäßig komplexes Nervensystem und Gehirn wieder vereinfacht, und zwar meist im Zusammenhang mit einer sesshaften oder parasitischen Lebensweise, und die allermeisten Arten sind seit Hunderten Millionen Jahren so geblieben, wie sie entstanden sind. Evolution ist also keineswegs identisch mit „Höherentwicklung“ – im Gegenteil.
Komplexe Gehirne und intelligentes Verhalten sind die Ausnahme in der Evolution und finden sich innerhalb der Wirbellosen nur bei Tintenfischen wie dem Kraken Octopus und bei Gliederfüßern und hier besonders bei Insekten wie der Honigbiene. Wirbeltiere (Knorpel- und Knochenfische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säuger) haben meist komplexe Gehirne, aber auch hier weisen nur wenige Tiergruppen hohe Intelligenzleistungen auf wie Rabenvögel, Papageien, Elefanten, Delfine und Affen. Diese Tiere verfügen über beträchtliche Gedächtnis- und Denkleistungen, sie stellen Werkzeuge her, können sich im Spiegel erkennen, haben Bewusstsein und verfügen über ein kompliziertes Kommunikationssystem, das aus Lauten und Gebärden besteht. Der Mensch, zu den Primaten gehörig, überragt diese Tiere nur quantitativ, nicht qualitativ.
Die zweite Einsicht lautet, dass sich solche „Höchstleistungen“ während der Evolution vielfach und unabhängig voneinander aus weniger intelligenten Vorfahren entwickelt haben – schließlich sind Tintenfische, Insekten, Vögel und Säugetiere nur sehr entfernt miteinander verwandt. Fast immer traten Formen hoher Intelligenz auf, wenn Tiere in neue Lebensräume eindrangen, in denen höhere Sinnesleistungen, eine bessere neuronale Informationsverarbeitung und ein flexibles, innovatives Verhalten benötigt wurden. Grundprinzip dieses Vorgangs ist also nicht, wie es in vielen Biologie-Lehrbüchern heißt, das Gewinnen des Wettkampfs um Ressourcen im bisherigen Lebensraum, sondern das Vermeiden von Konkurrenz. So versuchten einige Menschenaffen dem im schrumpfenden Urwald herrschenden Konkurrenzkampf zu entgehen, indem sie in die Savannen auswichen. Dies erklärt, warum die „daheimgebliebenen“ Menschenaffen im Urwald erfolgreich weiterexistierten und sich beide Gruppen (bis vor kurzem) nicht ins Gehege kamen. Erst eine Million Jahre später kam es beim Menschen zu einem stark vergrößerten Gehirn, zu Werkzeugherstellung, Feuergebrauch und komplexer Sprache.
Schaut man sich nun die Gehirne der Tiere an, die sich durch hohe kognitive Leistungen auszeichnen, so tut sich ein weiteres Problem auf. Die kleinsten unter ihnen, wie das einer Honigbiene, wiegen nur wenige Milligramm. Das Gehirn einer Elster wiegt trotz der hohen Intelligenz dieser Tiere nur rund 10 Gramm, während ein Rhesusaffe, der nicht wesentlich intelligenter erscheint als eine Elster, ein Gehirn von rund 90 Gramm besitzt. Sehr große Gehirne finden sich beim Elefanten mit bis zu 6 Kilo und Walen bis zu 10, aber beide Tierarten zeichnen sich nicht durch eine überragende Intelligenz aus. Das menschliche Gehirn ist mit einem durchschnittlichen Gewicht von 1,4 Kilogramm deutlich kleiner als das der Elefanten oder Wale. Gehirngröße hat offenbar nicht direkt etwas mit Intelligenz zu tun, Tiere mit kleineren Gehirnen können intelligenter sein als solche mit größeren Gehirnen.
Dasselbe gilt für die Zahl der Nervenzellen in den Regionen des Gehirns, die direkt mit kognitiven Leistungen zu tun haben. So enthalten die Pilzkörper im Gehirn der Honigbiene gerade einmal 300 000 Neurone, der Vertikallobus im Gehirn von Octopus immerhin 25 Millionen, das Mesonidopallium der Vögel schätzungsweise 200 Millionen, die Großhirnrinde eines Makakenaffen rund 400 Millionen, die des Elefanten und eines großen Wals rund 11 Milliarden und schließlich die Großhirnrinde des Menschen 12 bis 15 Milliarden. Die Zahl der an Intelligenzleistung beteiligten Nervenzellen kann also bei ähnlich intelligenten Tieren wie Rabenvögeln, Makaken und Elefanten um das Zwanzigfache variieren. Nur beim Menschen scheint es zu „passen“: er hat die meisten Nervenzellen in seiner Großhirnrinde und ist der intelligenteste!
Auf was kommt es dann aber an, wenn nicht auf Größe des Gehirns oder Zahl der Zellen? Eine genaue Analyse ergibt, dass tierische und menschliche Intelligenz von zwei Faktoren abhängt: der Verarbeitungsgeschwindigkeit von Information und der Speicherkapazität der Nervennetze. Der erste Faktor hängt wiederum vom mittleren Abstand der Nervenzellen und der Fortleitungsgeschwindigkeit der Nervenfasern ab: Je enger gepackt die Nervenzellen und je schneller die Fortleitungsgeschwindigkeit, desto schneller kann die Information verarbeitet werden. Die Speicherkapazität hingegen hängt von der Zahl der Neurone im Gedächtnisnetzwerk und der Kontaktpunkte zwischen ihnen, den Synapsen, ab: Je mehr Neurone und Synapsen, desto größer der Speicher.
Wenn wie bei der Honigbiene sehr kleine Neurone sehr dicht gepackt sind, dann können diese Gehirne eine hohe Verarbeitungsgeschwindigkeit bei mittleren Gedächtnisleistungen aufweisen. Das erklärt zumindest zum Teil ihre erstaunlichen Intelligenzleistungen. Elefanten und Wale haben in ihrer riesigen Großhirnrinde zwar sehr viele Neurone, was für die Gedächtnisbildung günstig ist, aber die Packungsdichte ist gering, die Nervenfasern sind lang und ihre Leitungsgeschwindigkeit ist gering. Dies erklärt, warum Elefanten und Wale trotz ihrer Riesengehirne bei weitem nicht so klug sind wie Makakenaffen mit einem Zehntel an Hirnmasse und Zellzahl. Der Mensch hat zwar ein deutlich kleineres Gehirn als Elefanten, aber kleinere Zellen, eine höhere Packungsdichte und eine hohe Fortleitungsgeschwindigkeit. Während also bei kleinen Tieren und Gehirnen die Verarbeitungsgeschwindigkeit und bei sehr großen Tieren und Gehirnen das Gedächtnis Trumpf sind, optimiert das menschliche Gehirn beides, und dies ist ein wesentlicher Grund für seine überragende Intelligenz.
Wir erkennen somit zweierlei: Erstens sind innerhalb der Evolution Geist und Intelligenz vielfach unabhängig voneinander entstanden. Beim Menschen kommen einige Faktoren zusammen, die die Leistungsfähigkeit seines Gehirns stark erhöhten, insbesondere die Evolution einer syntaktisch-grammatikalischen Sprache vor rund 100 000 Jahren, die als extremer Intelligenzverstärker angesehen werden kann. Zweitens gibt es offenbar eine Art Grundstruktur von Geist und Intelligenz, die sich während der Evolution der Tiere vielfach unabhängig voneinander verwirklicht hat, meist im Zusammenhang mit der Eroberung neuer Lebensräume. Diese Grundstruktur hat sich beim Menschen weiter entwickelt als bei anderen Tieren, aber menschlicher Geist und menschliche Intelligenz verbleiben im Rahmen des naturwissenschaftlichen Verstehens und sind kein metaphysisches Ereignis. Je genauer wir diese Grundstruktur verstehen, desto eher könnten wir sie eines Tages im Prinzip als künstliche Intelligenz nachbauen. Es kann aber sein, dass die schiere Komplexität und die notwendigen Materialien uns einen dicken Strich durch die Rechnung machen.
Gerhard Roth ist Hirnforscher und Professor für Verhaltensphysiologie an der Universität Bremen. Eine ausführliche Darstellung seiner Thesen findet sich im Buch „Wie einzigartig ist der Mensch? Die lange Evolution der Gehirne und des Geistes“ (Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2010. 442 Seiten, 24,95 Euro).
In der Natur gibt es zahlreiche Beispiele für intelligentes Verhalten. Offenbar ist der Geist graduell entstanden und nicht plötzlich beim Urmenschen aufgetaucht.
Komplexe Nervensysteme und Gehirne sind mehrmals unabhängig entstanden. Meist geschah das, wenn Tiere in neue Lebensräume eindrangen und dort neue Herausforderungen meistern mussten.
Die meisten Lebewesen kommen ohne komplexes Gehirn aus. EInzeller sind äußerst erfolgreich und haben kein Nervensystem. Tatsächlich haben mehr Tierarten ihr komplexes Nervensystem wieder vereinfacht als umgekehrt.
Weder die Größe eines Gehirns noch die Zahl der Nervenzellen bestimmt offenbar allein die Intelligenz eines Tieres.
Gerhard Roth
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