Krebs: Evolution auf Abwegen
Jede Krebsgeschwulst hat ihren eigenen Stammbaum. Wer ihn absägt, kann den Patienten heilen. Kenne deinen Feind – diese Weisheit wird bei Krebs zu einer wahrhaft gigantischen Aufklärungsmission.
Es sieht auf den ersten Blick aus wie ein ganz normaler Stammbaum. Ein Hauptast, der sich teilt und dessen zwei Äste sich dann weiter verzweigen. Aber es ist kein normaler Stammbaum. Es ist die unheimliche Genealogie einer Krebsgeschwulst, die Charles Swanton vom Forschungsinstitut Cancer Research UK London und seine Mitarbeiter mit Hilfe aufwendiger genetischer Untersuchungen ermittelt und im Fachblatt „New England Journal of Medicine“ veröffentlicht haben. Das bedeutet: Auch die Zellen eines Tumors unterliegen den Gesetzmäßigkeiten der Evolution. Sie verändern ihre genetische Zusammensetzung und kämpfen ums Überleben, auch untereinander – ein Ringen, welches das Leben des Patienten bedroht.
Krebs steht für ungeordnetes, ungehemmtes und zerstörerisches Wuchern von körpereigenem Gewebe. Die Ursache sind tiefgreifende genetische Veränderungen, Mutationen genannt. Mit jeder Veränderung der Erbinformation in einer Körperzelle wächst das Risiko krebsartigen Wachstums. Doch bedarf es etlicher verhängnisvoller Mutationen, bis tatsächlich Krebs ausbricht. Es ist ein stufenweiser Prozess, der zehn oder mehr Jahre dauern kann.
Swanton und sein Team haben das Tumorgewebe von vier Patienten mit Nierenkrebs einer genetischen Detailanalyse unterzogen. Es zeigte sich, dass schon die ursprüngliche Geschwulst in der Niere in sich genetische Unterschiede besaß, je nachdem, welcher Bereich untersucht wurde. Beim ersten Patienten stießen die Forscher auf einen besonders auffälligen Abschnitt in dem etwa apfelsinengroßen Tumor. Die Zellen hatten den vierfachen statt eines normalen doppelten Chromosomensatzes und waren vermutlich der Ursprung für Tochtergeschwülste, unter anderem in der Brustwand.
In jeder Gewebeprobe stießen die Forscher auf rund 70 Mutationen. Mitunter war das gleiche Gen je nach Probe an anderen Abschnitten mutiert – ein Vorgang, der in der Evolution als Konvergenz bezeichnet wird. So hatten die Krebszellen es auf dreifach verschiedene Weise geschafft, das Gen SETD2 auszuschalten.
Insgesamt war nur ein Drittel der Mutationen in allen untersuchten Krebszellen vorhanden. Sie bilden gewissermaßen den virtuellen „Stamm“ des Tumors, von dem die einzelnen Abkömmlinge oder Populationen abzweigen. Zwei Drittel der genetischen Veränderungen finden sich dagegen nur in bestimmten, nicht in allen Abschnitten.
Die genetische Vielfalt eines Tumors wirft einen Schatten auf die Versuche, Krebsarten anhand ihres Erbguts zu klassifizieren und biologische Schwachstellen herauszufinden. „Wer in einer einzelnen Gewebeprobe 20 Mutationen findet, kann nicht wissen, ob alle Krebszellen Träger dieser genetischen Veränderungen sind“, sagt Andreas Trumpp vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Er erforscht den Zusammenhang von Krebs und Stammzellen.
Jeder Tumor besteht aus unterschiedlichen Untereinheiten, Klone genannt. Das hat die Studie von Swanton eindrucksvoll belegt. Die Klone benutzen zum Teil unterschiedliche biologische Signalwege zum Überleben. Diese „Artenvielfalt“ muss beim Erstellen eines genetischen Profils stärker berücksichtigt werden. Es kommt darauf an, jene Mutationen zu finden, die allen Krebszellen zugrunde liegen, sagt Trumpp. Sie sind die gemeinsame Basis, aus der verschiedene Krebs-Klone herauswachsen.
Kennt man jene Erbanlagen, die bei einem Krebs stets auffällig verändert sind, kann man versuchen, diese als Angriffspunkte für die Behandlung zu nutzen. So ist vorstellbar, dass künftig die herkömmliche Chemotherapie mit Einzelsubstanzen kombiniert wird, die bestimmte Signalwege des Tumors unterbinden und so seine Lebensadern zu trennen. Trumpp vergleicht das Vorgehen damit, die Brücken einer Insel zu blockieren. „Wenn Sie eine Brücke sperren, dann kann ein Ganove mit dem Auto über eine zweite entkommen – erst, wenn alle Brücken gesperrt sind, gibt es kein Entrinnen.“
Kenne deinen Feind – diese Weisheit der Strategen wird im Falle von Krebs immer mehr zu einer wahrhaft gigantischen Aufklärungsmission. Swanton sagte dem Fachblatt „Nature“, dass das Sammeln der genetischen Information die Institutscomputer für zwei bis drei Monate verstopfte. Und das ist erst der Anfang.