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© dpa

Sabine Hark, Soziologin: "Es gibt nicht nur zwei Geschlechter"

Die Soziologin Sabine Hark zu der Aufregung um die südafrikanische Läuferin Caster Semenya.

Frau Hark, in Kürze fällt die Entscheidung darüber, ob die intersexuelle südafrikanische Sportlerin Caster Semenya ihr Gold über 800 Meter von der Leichtathletik-WM in Berlin behalten darf. Womit rechnen Sie?



Ob sie ihre Medaille nun behalten darf oder nicht: Leider war es Semenya nicht vergönnt, ihren Triumph zu genießen. Es gab kaum Applaus im Stadion, die Medien diskutierten über ihr „ausgeprägtes Kinn“, ihre „tiefe Stimme“ und die „stark ausgeprägten Muskeln“. Seitdem mutmaßt der internationale Leichtathletikverband IAAF darüber, „ob diese Lady eine Frau ist“. Dabei hat das IOC schon im Jahr 2000 diese Art von Geschlechts-Tüv bei Sportereignissen abgeschafft.

Warum? Im Leistungssport geht es doch um harte Arbeit und viel Geld. Muss da am Start nicht Waffengleichheit herrschen?

Die damaligen Tests etwa bei den Olympischen Spielen hatten vor allem zur Folge, dass die betroffenen Athletinnen öffentlich beschämt wurden. Zweifelsfreiheit in Sachen Geschlecht wurde aber nicht hergestellt. So war bei den Olympischen Spielen von 1992 und 1996 der sogenannte SRY-Test für alle Teilnehmerinnen obligatorisch. Das SRY-Gen ist das Gen auf dem Y-Chromosom, das für die „männliche“ Geschlechtsentwicklung verantwortlich ist Nach mehr als 6000 Tests wurden bei einigen Frauen sexuelle Entwicklungsstörungen nachgewiesen, die davon vorher gar nichts gewusst hatten. Die intersexuellen Frauen waren weder in ihrer Erscheinung noch in ihrer Leistung von anderen XX-Athletinnen zu unterscheiden und wurden zu Unrecht vom Wettbewerb ausgeschlossen.

Das Publikum sehnt sich nach dem begnadeten Körper. Der Schwimmer Michael Phelps profitiert von seinen riesigen Füßen, der Läufer Usain Bolt kann dank seines Wuchses eine besonders effektive Hebelwirkung erzielen. Muss es aus Ihrer Sicht also genauso als biologischer Glücksfall bewertet werden, wenn Semenya wie gemutmaßt wurde mit nach innen gestülpten Hoden geboren worden sein sollte, die sie mit Testosteron unterstützen?

Wenn es so wäre, hätte Semenya dann tatsächlich genauso Glück wie Michael Phelps oder Usain Bolt. Allerdings muss ein erhöhter Testosteronspiegel nicht immer leistungsfördernd wirken. Es ist also überhaupt nicht gesagt, dass Semenya schnell ist, weil sie intersexuell ist. So schnell ist sie übrigens auch gar nicht. Vom Weltrekord der Frauen, der seit 1983 steht und von Jarmila Kratochvílová in München gelaufen wurde, ist Semenya weit entfernt. Auch den Rekord der deutschen Frauen, den Sigrun Wodars 1987 in Rom aufstellte, konnte Semenya nicht brechen. Es stehen ihr also offenbar keine ganz besonderen Mittel zur Verfügung. Vielleicht sollte man überhaupt darüber nachdenken, ob eine Regelung wie im Golfsport, in dem die Vergleichbarkeit der Spieler und Spielerinnen über ein Handicap reguliert wird, nicht eine gerechtere Weise ist, gleiche Startchancen herzustellen.

Nach Semenyas Siegeslauf in Berlin erklärte ein Sportfunktionär, es werde Wochen dauern, bis man über ihr Geschlecht Klarheit habe. Diese Aussage dürfte viele Zuschauer erstaunt haben.

Kein Wunder. Anders als früher von der Medizin behauptet, gibt es eben nicht nur zwei mögliche Körper, sondern ein Kontinuum. Dazu gehören verschiedene Chromosomensätze neben XX und XY sowie allerlei Variationen: Chromosomales, genitales, hormonales und gonadales Geschlecht können in ganz unterschiedlicher Weise zusammenfallen. Der Sport hat das schon anerkannt. So heißt es in den Regelungen des internationalen Leichtathletikverbandes IAAF zur Geschlechtsfrage, der „Policy on Gender Verification“, dass eine Entscheidung über die Athleten nur von Fall zu Fall, basierend auf individueller Einschätzung, getroffen werde könne.

Die Übergänge zwischen Mann und Frau sind fließend?

Genau, und das nicht nur bei als intersexuell klassifizierten Menschen. Diese Ansicht der kritischen feministischen Forschung ist seit einiger Zeit im Mainstream der Biologie und Medizin angekommen. Geschlecht ist eine kulturelle Kategorie. Wie schon Simone de Beauvoir gesagt hat: Wir werden nicht als Frauen geboren, sondern zu Frauen gemacht.

Immerhin können Frauen Kinder zur Welt bringen, Männer nicht.

Frauen sind nur einen sehr geringen Teil ihres Lebens gebärfähig, Man könnte also auch darüber nachdenken, dass Frauen beispielsweise nach der Menopause in eine andere Klasse – die der Männer – wechseln. Es gibt Kulturen, in denen das der Fall ist. Und es gibt genug Frauen und Männer, die keine Kinder bekommen können oder wollen. Keins der Körpermerkmale, die bei der biologischen Geschlechtsbestimmung in Betracht gezogen wird – die Chromosomen, der Hormonspiegel, die inneren und äußeren Geschlechtsorgane – taugt dazu, jeden Menschen ein ganzes Leben lang auf ein bestimmtes Geschlecht festzulegen. Die Unterschiede zwischen allen Männern sind größer als die zwischen Mann und Frau. Das übersehen wir nur, weil das Raster der Zweigeschlechtlichkeit gesellschaftlich genutzt wird, um uns den Unterschied zwischen den Geschlechtern immer wieder ins Gedächtnis zu rufen.

Die meisten Menschen gehen aber davon aus, dass sich das biologische Geschlecht durchaus in typischem Verhalten enthüllt: Mädchen greifen zur Puppe, Jungen zum Auto. Neulich erklärte etwa eine Intersexuelle im Rückblick auf ihre Kindheit, sie sei schon als Mädchen auf Bäume geklettert und habe in der Klasse den Ton angegeben – ein Hinweis auf ihr damals noch unbekannten männlichen körperlichen Anteile.

Dass Intersexuelle auf dieses Erzählmuster zurückgreifen ist nachvollziehbar, da wir in einer Gesellschaft leben, die uns immer wieder versichert, dass Mädchen lieber mit Puppen und Jungs mit Autos spielen. Offenbar gibt es aber viele „ganz normale“ Mädchen, die auch gerne auf Bäume klettern. Und Jungen, für die Autos und Fußball auch nicht der Inbegriff ihrer Träume sind. Aber im Ernst: Der Soziologe Erving Goffman spricht hier von Genderismus. Er meint damit, dass das soziale Geschlecht einer Person dadurch bestätigt wird, dass ihre Verhaltensweise als geschlechtsspezifisch klassifiziert werden kann. Das heißt: Jungen und Mädchen – ebenso wie erwachsene Männer und Frauen – bestätigen sich selbst und anderen gegenüber ihr Geschlecht indem sie Verhaltensweisen wählen, die als ihrem Geschlecht angemessen gelten.

Was hat es zu bedeuten, dass sich Semenya nach der Leichtathletik-WM auf dem Cover eines Magazins mit langen Haaren und im Kleid zeigte – da stand doch schon fest, dass sie biologisch keine „richtige“ Frau ist, wozu also die Maskerade?

Semenya versteht sich als Frau, also ist sie eine. Insofern ist es falsch von Maskerade zu sprechen. Zudem war der weltweite Zweifel an ihrem Geschlechtsstatus letztlich auch ein Zweifel an ihrem Status als Mensch. Sie war also genötigt zu demonstrieren, dass sie sich ihrem Geschlecht „angemessen“ verhält.

Die Norm verlangt, dass das biologische Geschlecht mit dem Auftreten als Mann oder als Frau übereinstimmen muss. Warum hängt so viel von der Binarität der Geschlechter ab?

Die Transgender-Aktivistin Kate Bornstein hat einmal gesagt, es gibt zwei Geschlechter, damit das eine Geschlecht das andere beherrschen kann. Das sei der einzige Grund, warum wir nach Geschlecht unterscheiden. Man kann es weniger drastisch auch so sagen: Geschlecht ist ein gesellschaftliches Ordnungssystem das den hierarchisierten, abgestuften Zugang zu Ressourcen der verschiedensten Art regelt.

Sehen Sie Entwicklungen hin zu mehr Gelassenheit mit Menschen, die in diesem Punkt von der Norm abweichen?

Ja und nein. Als notorische Optimistin sehe ich, dass der Aktivismus von Transgender und Intersexuellen in den letzten Jahren hier einiges bewegt hat. Allerdings ist die Gewalt – und das schließt auch chirurgische Eingriffe bei Neugeborenen oder erzwungene Geschlechtsfeststellungstests ein – gegenüber gender-nonkonformen Menschen nach wie vor nicht zu unterschätzen. Sie muss als das angeprangert werden, was sie ist: als menschenrechtswidrig.

Die Fragen stellte Anja Kühne.

SABINE HARK (47), ist Professorin für Soziologie und leitet seit April das Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZIFG) der TU Berlin

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