Rückbau eines Kernkraftwerks: Entkernt
Deutschland hat sich gegen die Atomkraft entschieden. Nun sollen die Reaktoren zügig verschwinden. Aber der Abriss ist extrem aufwendig. Er wird Jahrzehnte dauern.
Laserstrahlschneiden, Funkenerosion, Wasser-Abrasivschneiden. Das klingt martialisch – und ist es auch. Doch solche Verfahren sind notwendig, wenn Ingenieure Kernkraftwerken zu Leibe rücken, um sie in handhabbare Stücke zu zerteilen. Massive Anlagen, einst errichtet für eine halbe Ewigkeit, robust genug, um Erdbeben, Flugzeugabstürzen oder Orkanen zu widerstehen, sollen jetzt klein gemacht werden und von der Bildfläche verschwinden. So lautet zumindest die Forderung, nachdem im deutschen Atomausstieg festgelegt ist, dass bis 2022 alle 17 deutschen Kernkraftwerke abgeschaltet werden.
Es ist eine gewaltige Aufgabe, die Genehmigungsverfahren sind aufwendig, die Logistik kompliziert. Und so könnten trotz Hightech-Schneidern noch einmal 15, 20 oder noch mehr Jahre vergehen vom Abschalten bis zur „grünen Wiese“. Das zeigen auch Erfahrungen von Anlagen, die schon seit geraumer Zeit demontiert werden, wie zum Beispiel das Kernkraftwerk Obrigheim in Baden-Württembergs. Von 1968 bis 2005 wurde hier Strom produziert, 2008 begann der Betreiber EnBW mit dem Rückbau. Zuerst wurden die „nicht nuklearen“ Teile entfernt, wie die Dampfturbinen und der Generator. Davon kündet bis heute ein gewaltiger Krater im Maschinenhaus, wo die Geräte einst liefen. Nun sind die Arbeiter im Zentrum des Kraftwerks angelangt, dem Reaktorgebäude unter der markanten Betonkuppel.
„Früher wären wir an dieser Stelle ziemlich ins Schwitzen geraten“, sagt Manfred Möller, Technischer Geschäftsführer der Anlage, als er durch eine Schleuse mit wuchtigen Stahltüren ins Innere tritt. Das Prinzip eines Kernkraftwerks bestehe nun mal darin, aus der Hitze der Kettenreaktionen Wasserdampf für die Turbinen zu gewinnen. „Trotz Isolierung um den Reaktorkern war es hier in dem Gebäude immer sehr warm“, erzählt er. Heute ist es frisch unter der Betonhülle, die sich wie ein fleckig gelber Himmel über die Reste des Reaktors spannt. Die Lüftung rauscht. „Wir arbeiten nach wie vor mit Unterdruck im Gebäude“, sagt Möller. „So wird verhindert, dass radioaktive Partikel nach draußen gelangen.“
Die Strahlung ist nicht sichtbar, man muss sich auf die Messungen verlassen
Welche Bereiche belastet sind und welche ungefährlich, ist durch Absperrbänder markiert. Radioaktivität ist unsichtbar, man muss auf die regelmäßigen Messungen vertrauen. Dennoch bleibt ein seltsames Gefühl: Hier könnte vielleicht doch ... oder hier? Und wie viel Strahlung steckt da eigentlich drin, etwa dort unten am Boden des – leer geräumten – Brennelementbeckens? Würde ich Krebs bekommen, wenn ich da runtergehen, den Edelstahl anfassen würde? Andererseits: Die haben mich doch hier reingelassen, das wird schon sicher sein. Obwohl, wir tragen doch nicht umsonst Ganzkörperanzüge, Überschuhe und Handschuhe? Verflixt, radioaktive Strahlung kann der Mensch nicht wahrnehmen. Wie leicht wähnt er sich in falscher Sicherheit. Oder verfällt irrtümlich in Panik.
Möller scheint solche Gedanken lange hinter sich gelassen zu haben. In einem anderen Kraftwerk sei er für eine Inspektion schon unter den voll beladenen Reaktordruckbehälter gestiegen, sagt der Ingenieur. „Da wird vorher die Strahlenbelastung gemessen und dann weiß ich, dass es sicher ist, dort hinzugehen.“ Doch die meisten Menschen ticken anders und es ist auch dieses diffuse Bedrohungsgefühl, das die Antiatomkraftbewegung gespeist und letztlich zum Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland geführt hat.
Der Reaktorbehälter in Obrigheim, das Herz des Kraftwerks, ist lange leer. Früher hingen darin die Brennstäbe, in denen Uran zerfiel und so Wärme produzierte. In diesem Jahr soll er entfernt werden, sobald die Genehmigung vorliegt. Der 250-Tonnen-Stahlbehälter ist umschlossen von einer zwei Meter dicken Betonhülle. Dort haben Fachleute begonnen, eine Seilsäge zu installieren: ein diamantbesetztes Stahlseil, das in Endlosschleife rotiert und sich durch den Beton frisst. Um des Staubes Herr zu werden, stehen überall Folienzelte, teilweise wird nur unter Wasser gearbeitet. Bei Stahlkonstruktionen setzen die Experten eher auf Plasmaschneiden oder einen Wasserstrahl, der mit einem so hohen Druck aus der Düse kommt, dass er selbst hartes Metall trennt. „Das sind alles bewährte Verfahren, die auch bei anderen Industriedemontagen eingesetzt werden“, sagt Möller. Hier und da werde weiter geforscht, etwa an ferngesteuerten Fräsen und Schneidern, aber im Prinzip sei alles da, was man zum Abbau eines Kernkraftwerks benötige. „Die eigentliche Herausforderung ist eher die Logistik.“ Wann wird welches Teil abgebaut, welche Infrastruktur wie Lüftung oder Wasseraufbereitung muss dafür erhalten bleiben?
Das lässt sich gut im Reaktorgebäude erkennen. Auf dem begrenzten Platz drängen sich Arbeitsbühnen, schweres Gerät, armdicke Stahlseile. Eine neue Kranschiene wurde eingebaut sowie eine neue Schleuse im Untergeschoss, damit große Teile überhaupt hinaustransportiert werden können.
Der stählerne Reaktordruckbehälter wird unter Wasser zerlegt und verpackt
Etwa ein Prozent des gesamten Kraftwerks ist laut EnBW radioaktiv und muss gesondert behandelt und entsorgt werden. 99 Prozent sind unbedenklich. Das eine muss vom anderen getrennt werden. Die Fachleute unterscheiden zwischen „kontaminiert“ und „aktiviert“. Letzteres bedeutet, dass radioaktive Elemente ins Material eingedrungen sind oder sich dort gebildet haben. Das betrifft vor allem den Reaktordruckbehälter. Er wird unter Wasser zerlegt und in Abfallbehälter verpackt. Kontaminiert hingegen heißt, dass radioaktive Stoffe vor allem auf der Oberfläche sitzen, wie Staub. „Da genügt es manchmal schon, sie gründlich abzuwischen, um die Strahlenbelastung zu verringern“, erläutert Möller. „Dann kann ein Stahlträger direkt verschrottet werden oder ein Betonteil als Rohstoff für den Straßenbau verkauft werden.“ Auf diese Weise lässt sich mit den Kraftwerksteilen noch Geld verdienen, anstatt für die teure Entsorgung aufzukommen.
Generell ist vorgeschrieben, dass kein Gegenstand das Gelände verlassen darf, ohne vorher auf seine Radioaktivität geprüft worden zu sein. Betonwände oder sehr große Bauteile werden mit einem Handgerät vor Ort gemessen, bevor sie eine Freigabe erhalten. Der ganze Rest wird so klein zerlegt, dass er in metergroße Stahlkörbe passt, die durch eine automatische Messanlage fahren. Selbst zusammengefegtes Herbstlaub und alte Bürostühle aus der Leitwarte – alles muss durch die Prüfstrecke.
Was unter dem gesetzlichen Grenzwert liegt, darf auf die Deponie. Was stärker strahlt, wird in Fässer verpackt, die in den Schacht Konrad in Niedersachsen kommen sollen. Doch dieses Endlager für schwach- bis mittelradioaktive Abfälle ist noch nicht eröffnet. Der Termin wurde immer wieder verschoben, 2019 heißt es derzeit offiziell, wobei manche Experten glauben, dass auch das nicht zu schaffen ist. „Wir brauchen Konrad, um das Material, das beim Rückbau anfällt, zügig zu entsorgen“, sagt Ralf Güldner, Präsident des Deutschen Atomforums, eines Interessenverbands der Kerntechnikbranche. „Solange das Endlager nicht eröffnet ist, müssen die Abfälle bei den jeweiligen Kernkraftwerken bleiben.“ Allein in Obrigheim, einer eher kleineren Anlage, werden es rund 2000 Tonnen sein.
Die Brennelemente bleiben weiter in der Nähe des Kraftwerks - bis es ein Endlager gibt
Der Wunsch der Öffentlichkeit, die Ruinen des Atomzeitalters mögen bald verschwinden, wird so schnell nicht erfüllt werden. Selbst wenn die schwach strahlenden Reste fort sind, die Brennelemente bleiben. Sie müssen laut Atomgesetz so lange „standortnah“ gelagert werden, bis ihre Nachzerfallswärme gering genug ist, dass sie in ein Endlager gebracht werden können. Das Wärmeproblem ist ein physikalisches und nach einigen Jahren geklärt. Das Endlagerproblem ist ein politisches, bislang ohne Lösung. So wird es neben der grünen Wiese weiterhin stacheldrahtbewehrte Trutzburgen aus Beton geben, in denen die strahlenden Reste verwahrt werden.
Das ist auch die Aussicht für Obrigheim. 342 Brennelemente lagern dort, versenkt in Wasser, das sie kühlt und die Strahlung schluckt. Ein lokales Aktionsbündnis warnt, dass wie in Fukushima auch in Obrigheim ein Feuer in diesem Nasslager ausbrechen und Radioaktivität freisetzen könnte. „Laut Stresstest ist das Lager sicher“, sagt EnBW-Sprecher Ulrich Schröder. „Die Brennelemente sind bereits deutlich abgeklungen und sollen bald in 15 Castorbehälter eingelagert werden.“ Diese Behälter sollen dann das Zwischenlager Obrigheim bilden, das derzeit in der Genehmigungsphase ist.
Mit Anträgen und Genehmigungen, so scheint es, haben bald mehr Menschen zu tun als mit dem Dekontaminieren und Zerlegen des Kraftwerks. „Wir unterliegen dem Atomgesetz, jeder Abbauschritt muss umfassend dargelegt und beantragt werden“, sagt Schröder. Das zuständige Umweltministerium in Baden-Württemberg prüft, fordert unter Umständen weitere Unterlagen an und entscheidet. „Das dauert oft mehrere Jahre, der eigentliche Rückbau in den einzelnen Etappen geht wesentlich schneller.“
Fürs Schleifen, Trennen und Verladen werden Spezialfirmen geholt oder eigenes Personal eingesetzt. Für die Kraftwerksmitarbeiter ist das eine Umstellung: Ihre Anlage, die sie jahrelang gepflegt und in Schuss gehalten haben, die sollen sie nun eigenhändig abreißen. EnBW schickt schon heute Mitarbeiter aus den anderen, angezählten Kraftwerken in Philippsburg und Neckarwestheim hierher, damit sie von ihren Kollegen erfahren, wie sich das anfühlt und wie man diese Situation gut bewältigt.
Spezialfirmen haben den bevorstehenden Rückbau-Boom längst erkannt
Gerade diese Menschen werden gebraucht, denn sie kennen die Anlagen wie kein anderer. Doch diese Fachkräfte könnten fehlen, wenn sich der Rückbau zu lange hinzieht. Ausgeschlossen ist das nicht. Das Deutsche Atomforum nennt zwar allenthalben die Zahl von „10 bis 15 Jahren“ für den Rückbau eines Kraftwerks. Ob das immer zu schaffen ist, ist fraglich. EnBW-Sprecher Schröder jedenfalls will ungern eine konkrete Angabe dazu machen, wann in Obrigheim das Ziel erreicht ist: „Da gibt es zu viele Unbekannte, vor allem die komplizierten Genehmigungsverfahren, um einen detaillierten Zeitplan zu erstellen.“ Vielleicht zwischen 2020 und 2025 – das wären eher 20 Jahre.
Hinzu kommt: Aufgrund des Atomausstiegs stehen binnen elf Jahren 17 weitere Abwrackkandidaten im Land, die praktisch zeitgleich demontiert werden sollen. Der Chef des Atomforums rechnet dennoch nicht damit, dass es deshalb Verzögerungen gibt. „Mehrere Firmen aus dem In- und Ausland, die auf Kerntechnik spezialisiert sind, haben diese Situation als Chance erkannt und versuchen, hier ins Geschäft zu kommen“, sagt Güldner.
Selbst wenn alles nach Plan geht, bis zur „grünen Wiese“ wird es vielleicht gar nicht überall kommen. Denn es handelt sich um erschlossene Industriegelände, die womöglich andere Firmen nutzen wollen, wie EnBW-Sprecher Schröder am Beispiel Obrigheim erklärt. Die Wärmeversorgung wäre dort schon mal gesichert. Neben dem abgeschalteten Kernkraftwerk steht jetzt ein Biomasseheizkraftwerk.
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