Zum Tode von Oliver Sacks: Entdecker und Erzähler
Oliver Sacks hat wie kein anderer beschrieben, wie fragil unsere Wahrnehmung der Realität ist. Nun starb er 82-jährig in New York an Krebs. Ein Nachruf.
Es gibt vermutlich nichts, was die Neugier dieses Mannes nicht herausgefordert hätte. Selbst seine eigene Krankheit, sein Sterben beobachtete er auf eine Art und Weise, die wenigen Menschen gegeben ist. Als Oliver Sacks im Januar erfuhr, dass sein Tumor Metastasen in der Leber gebildet hatte und jene Krebszellen die Leber lieben, schoss ihm durch den Kopf: „Ich auch!“ Er ging in ein Restaurant und bestellte Leber. Als sie serviert wurde, kommentierte er: „Die sieht vermutlich besser aus als meine.“ Das alles erzählte er den Journalisten von „Radiolab“ vor ein paar Monaten mit einem Lachen in der Stimme. So als amüsiere er sich – trotz aller Traurigkeit – über sich selbst.
Er hatte ein Notizbuch mitgebracht und zeigte es ihnen. Ärzte hatten im Frühjahr unzählige Kügelchen in seine rechte Leberarterie injiziert, um die Metastasen des Melanoms auszuhungern. Es war eine anstrengende Behandlung, die ihm später eine Atempause schenkte. Die absterbenden Krebszellen gaben jedoch Chemikalien ab, die für kurze Zeit sein Hirn vernebelten. Als der Neurologe den Effekt bemerkte, begann er zu schreiben. Die erste Seite sah recht normal aus. Auf der zweiten wurden die Buchstaben wackelig, auf der dritten strich er viel durch. Dann wurde der Inhalt wirr, schließlich gingen die Wörter in Kritzeleien über. „Da war ich im Delirium“, sagte er trocken. „Verrückt, innerhalb von zehn Minuten. Wären diese Seiten nicht eine wundervolle Illustration zu dem Thema?“ Für Oliver Sacks war alles Wissenschaft, alles liebevolle Beobachtung der menschlichen Existenz. Mit den Aufsätzen, die er in den letzten Monaten in der „New York Times“ veröffentlichte, und seiner Autobiographie fügte er seinem Werk eine letzte Fallgeschichte hinzu: die eigene. Sie ist nun zu Ende. Oliver Sacks starb am Sonntag in New York. Er wurde 82 Jahre alt.
Der Neurologe und Schriftsteller führte ein Leben voller Gegensätze. Einsam und gesellig, gelehrt und körperbetont, analytisch und poetisch, zurückhaltend und übersprudelnd. Während ihm sonst nichts Menschliches fremd war, sprach er erst in seiner Autobiographie „On the Move“ über seine Homosexualität. Zu tief war wohl die Verletzung, die seine jüdisch-orthodoxen Eltern ihm zufügten, als er ihnen sagte, er möge lieber Jungs. „Du bist ein Gräuel“, warf ihm die Mutter an den Kopf. Der Satz begleitete ihn lange. Er verliebte sich nur vier Mal, und immer mit einem Gefühl der Scham.
Jeden Abend tauschte er seinen weißen Kittel gegen eine Motorradkluft ein
Oliver Sacks wurde am 9. Juli 1933 in London geboren, als jüngster Sohn von zwei Ärzten. Die naturwissenschaftlich geprägte Familie förderte seine Neugier, die Eltern beantworteten geduldig eintausendundeine Frage. Umso verlassener fühlten sich die Brüder, als sie während des Zweiten Weltkriegs zu ihrem Schutz in ein ländliches Internat evakuiert wurden. Die frühe Trennung sei furchtbar gewesen, schrieb Sacks. Vermutlich habe er deshalb Probleme mit den drei Bs: bonding, belonging and believing (Beziehungen knüpfen, sich zugehörig fühlen und darauf vertrauen).
Sacks wurde Arzt, sein Weg war vorgezeichnet. Er studierte an der Universität Oxford Medizin, arbeitete in Kliniken in Middlesex und Birmingham. Mit 27 Jahren brach er aus, reiste durch Amerika und fand eine Anstellung als Forschungsassistent in San Francisco. Jeden Abend tauschte er seinen weißen Kittel gegen eine Motorradkluft, raste mit seiner Maschine die Küste entlang und schloss durch Zufall Freundschaft mit den Hell’s Angels. Als er nach Los Angeles umzog, gehörte er wiederum zu zwei sehr unterschiedlichen Gruppen: den Neurologen an der Universität von Kalifornien und den Gewichthebern von Muscle Beach. Gleichzeitig beschlich Sacks das Gefühl, nichts Bedeutsames zu leisten. „Die Sehnsucht nach Sinn trieb mich in eine beinahe selbstmörderische Sucht nach Amphetaminen“, schrieb er in der „New York Times“. Er setzte die Drogen erst ab, nachdem er eines Morgens leidenschaftlich mit zwei Freunden beim Frühstück diskutiert hatte – und dann bemerkte, dass sie gar nicht existierten.
Seine Karriere als Forscher scheiterte zunächst, als er 1965 ans Albert Einstein College of Medicine in New York wechselte. „Geh! Geh und kümmere Dich um Patienten, da kannst Du weniger anrichten“, entfuhr es seinem entnervten Vorgesetzten. Glücklicherweise folgte Sacks dem Rat. Denn als Neurologe an der Beth-Abraham-Klinik in der Bronx traf er unter anderem auf 80 Opfer der Encephalitis lethargica, einer Schlafkrankheit. „Ich war fasziniert von meinen Patienten, mochte sie sehr gern und fühlte so etwas wie eine Mission, ihre Geschichten zu erzählen. Geschichten von Situationen, die niemand kannte und die sich niemand vorstellen konnte. Weder die Öffentlichkeit noch meine Kollegen.“ Inzwischen kennt sie fast jeder – entweder aus seinem Buch „Zeit des Erwachens“ oder aus dem gleichnamigen Film mit Robert de Niro und Robin Williams.
Kleinste Störungen im Gehirn zeigen, wie fragil unsere Wahrnehmung der Realität ist
Das Buch machte Oliver Sacks nicht nur weltberühmt, er hatte seine Berufung gefunden. Während die Medizin immer unpersönlicher wurde, wurde der Neurologe zum Erzähler und entriss eine Kunst aus dem 19. Jahrhundert der Vergessenheit: die Fallgeschichte. Sacks beschrieb nicht nur die Anzeichen einer Krankheit, sondern den Menschen mit seinem Leiden. Und das Gehirn als ein Organ, in dem kleinste Störungen zeigen, wie fragil unsere Wahrnehmung der Realität ist. „Ich sehe mich als Naturalist und Entdecker“, schrieb er über seine Arbeit.
Er machte die Schicksale seiner Patienten zu Kurzgeschichten und trug „die klinische Realität in all ihrer Vielseitigkeit“ in Dutzenden Büchern zusammen: „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“, „Eine Anthropologin auf dem Mars“ und „Der einarmige Pianist“ sind nur einige Beispiele.
Der Stoff ging ihm nie aus, Jahr für Jahr erreichten ihn Zehntausende Briefe von Patienten und Angehörigen, die seinen Rat suchten. Manche davon lernte er tatsächlich kennen, von manchen hat er uns erzählt, ohne Pathos und doch anrührend. Dabei gab er keinen seiner Protagonisten der Lächerlichkeit preis, ihre Würde war ihm ein hohes Gut. Einige ihrer Absonderlichkeiten beobachtete er auch an sich selbst: Da waren zum Beispiel Halluzinationen, die sein erblindetes Auge skurrile Dinge „sehen“ ließen und eine Gesichter-Blindheit, die es ihm schwer machte, Namen einer Person zuzuordnen oder sie wiederzuerkennen.
"Ich würde gern den Himmel sehen, wenn ich sterbe"
Die letzte Fallgeschichte war nun seine eigene. Anfang des Jahres schwamm er noch täglich eine Meile, er konnte zumindest für kurze Zeit verdrängen, wie nah sein Sterben war. Zuletzt war der Tod kein abstraktes Konzept mehr, sondern ständig präsent. Seine Muskeln schwanden, ständig übermannte ihn eine große Müdigkeit. Angesichts dieser Bedrohung fand er Trost in der Chemie und der Physik, sah in Gesteinen kleine Embleme der Ewigkeit, im Sternenhimmel eine Mahnung der eigenen Vergänglichkeit. „Ich würde gern den Himmel sehen, wenn ich sterbe“, hatte er zwei langjährigen Freunden gesagt. „Wir schieben Dich raus“, versicherten sie ihm. Man wünscht ihm von Herzen, dass das wahr wurde.