Mehrsprachigkeit in der EU: Englisch und viel mehr
Die EU braucht eine realistische Sprachpolitik – und jedes Land eine für sich. Ein Gastkommentar.
Direkt nach der Vorstellung der neuen EU-Kommission hagelte es Kritik von allen Seiten: Der Wirtschaftskommissar zu französisch, der Finanzkommissar zu britisch, der Kommissar für Digitalwirtschaft zu ahnungslos. In den Anhörungen der designierten EU-Kommissare regte sich gegen weitere Kandidaten Widerstand. Dabei standen politische Themen wie Energie, Bürgerrechte oder Finanz- und Währungspolitik im Vordergrund. Interesse für die künftige Sprachpolitik der EU-Kommission zeigte niemand.
Sprachpolitik hat nur geringen Stellenwert
Dieser Bereich soll künftig unter zwei Kommissaren aufgeteilt werden, was an sich schon den geringen Stellenwert der Mehrsprachigkeit in der neu antretenden Kommission unterstreicht. Kultur und Bildung sollen Tibor Navracsics unterstehen, der als ehemaliger ungarischer Justizminister für eine Linie steht, in der Sprach- und Kulturzugehörigkeit vor allem Instrumente von Machtpolitik sind und der Festigung eines chauvinistischen Nationalismus dienen sollen. Zwar möchte das Europaparlament durchsetzen, dass ihm die Zuständigkeit für Bürgerrechte entzogen wird, das Thema Sprache spielte dabei aber keine Rolle. Die andere Hälfte des Bereichs Mehrsprachigkeit wird der Kommissarin für Beschäftigung und Soziales zugeschlagen, der Belgierin Marianne Thyssen. Sie dürfte mit der politischen Dimension von Mehrsprachigkeit vertraut sein, darf aber nur noch die vermeintlich unmittelbar wirtschaftsrelevante Sprachpolitik steuern, etwa mit Programmen zu Weiterbildung und Berufsqualifikation. Deutlicher kann man es nicht machen: Sprachkompetenz wird unterteilt in Kulturmission und Wirtschaftsförderung.
Dabei hätte Europa eine kohärente, zielgerichtete und vor allem realistische Sprachpolitik sehr nötig. Der Europäischen Union sollte dabei ihre Kernrolle zukommen, nämlich Rahmenbedingungen zu schaffen und dafür zu sorgen, dass Mehrsprachigkeit gestaltet wird. Grenzüberschreitende Belange sind das genuine Thema der EU, dort hat sie ihre Kompetenzen. Sie muss dafür sorgen, dass über (Sprach-)Grenzen hinweg in Europa kommuniziert werden kann und so Verständigung und demokratische Teilhabe möglich sind. Die EU sollte dabei zwei Ziele verfolgen: einerseits die Festigung einer gemeinsamen Sprache zur grundlegenden Verständigung, andererseits den Ausbau der darüber hinausgehenden Mehrsprachigkeit.
Mindestens zwei Fremdsprachen
Bisher war das Aushängeschild der EU in Sachen Sprachpolitik die Formel „1+2“: Alle Europäer sollten neben ihrer eigenen Muttersprache mindestens zwei Fremdsprachen beherrschen. Diese Formel blieb vage und wurde kaum mit Leben gefüllt. Nicht zuletzt vereinfachte sie das Bild der Europäer, die beispielsweise häufig mehr als nur eine Muttersprache sprechen. Es ist also Zeit, dass die EU klarere sprachpolitische Ziele definiert und umsetzt. Wie könnte man eine europäische Sprachpolitik gestalten?
Zunächst sollte die EU einen Fonds für Mehrsprachigkeit auflegen, der Fördermittel für zwei Bereiche vergibt:
In weitgehender EU-Zuständigkeit liegt die Förderung von Englischkenntnissen. Ein Teil des Fonds wird darauf verwendet, dieses unerlässliche Instrument europäischer und weltweiter Kommunikation der EU-Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Alle Europäer müssen in die Lage versetzt werden, Englisch auf einem Niveau zu sprechen und zu verstehen, das ihnen Partizipation an den wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Prozessen Europas und der Welt erlaubt. Dass die Sprachkenntnisse in der EU sich bereits in diese Richtung bewegen, spricht keineswegs dagegen, dass die Entwicklung gesteuert werden kann und sollte. Ansonsten bleibt der Zugang zum Englischen weiterhin vor allem Privilegierten vorbehalten.
Der andere Teil wird an die Mitgliedsstaaten vergeben und subsidiär verwaltet. Die Staaten finanzieren daraus in Eigenregie die Förderung weiterer (Fremd-)Sprachenkenntnisse. Darunter können die für wichtig erachteten Nachbarsprachen sein, oder aber traditionelle Minderheitensprachen, und selbstverständlich auch außereuropäische Sprachen der neuen Minderheiten wie Türkisch oder Arabisch. Selbstverständlich ist die Zahl Zwei keineswegs eine Obergrenze. In manchen Gegenden kann es sinnvoll sein, Minderheitensprachen ebenso zu verankern wie eine weitere große Fremdsprache, etwa Spanisch.
EU soll Rahmenbedingungen für Sprachpolitik festlegen
Mit dieser Zweiteilung der Förderung von Sprachkenntnissen kann eine Balance aus Anerkennung der Realitäten und Umsetzung von Erwünschtem gelingen. Englisch ist ohnehin Lingua Franca, es ist also sinnvoll, diese Realität gestaltend zu begleiten und ihr einen angemessenen Rahmen zu geben. Nur dann kann auch das Erwünschte gelingen, nämlich andere Sprachen nicht aus gewissen Verwendungsbereichen völlig verdrängen zu lassen. Die EU-Kommission muss dafür Rahmenbedingungen festlegen. Dazu gehören vier zentrale Anforderungen:
1. Jedes Land ist verpflichtet, eine eigene Sprachpolitik zu entwerfen bzw. die Sprachpolitiken subnationaler Einheiten zu bündeln. Die jeweiligen Strategien nationaler Sprachpolitik müssen im Rahmen der EU-Institutionen zur Diskussion gestellt werden. Insbesondere müssen die Mitgliedsstaaten explizit dazu Stellung nehmen, warum welche Sprachen gefördert werden und welche nicht.
2. Dem gemeinsamen Rechtsrahmen muss ein Recht auf Mehrsprachigkeit hinzugefügt werden. Dazu gehört aber auch ein effektiver Zugang zur jeweiligen Mehrheitssprache oder Nationalsprache für Nicht-Muttersprachler. Ein solches Recht auf Spracherwerb soll selbstverständlich auch für Nicht-EU-Bürger gelten. So kann die Sprachförderung von Migranten sich vom Eindruck eines Repressionsmittels lösen und stattdessen als Angebot und Chance zur Partizipation wahrgenommen werden.
3. In jedem Mitgliedsstaat muss es für jede offizielle EU-Sprache mindestens eine Bildungseinrichtung geben, an der diese Sprache gelernt und studiert werden kann. Nur so kann dauerhaft auch der Nachwuchs an Experten gesichert werden, der die Sprachkompetenz der einzelnen Europäer überdachen und in der grenzüberschreitenden Kommunikation steuernd mitreden kann.
4. Die EU muss Übersetzungen gezielt und mit klaren Kategorien fördern. Ebenso wie auch der Mehrsprachigkeitsfonds müssen die Fördermittel für Übersetzungen in zwei Bereichen eingesetzt werden: Ein Teil wird für Übersetzungen ins Englische verwendet, der andere für Übersetzungen zwischen den anderen europäischen Sprachen. Dabei muss die Übersetzung wissenschaftlicher und belletristischer Werke gleichermaßen unterstützt werden.
Auf gestaltende Rolle der EU nicht verzichten
Sicherlich wird eine solche Sprachpolitik von zwei Seiten auf Kritik stoßen. Die eine Seite dürfte monieren, dass die Dominanz des Englischen leichtfertig anerkannt oder gar unterstützt wird. Die andere Seite kritisiert wahrscheinlich die Förderung weiterer Sprachen als Verschwendung. Eine realistische europäische Sprachpolitik muss diese beiden Einwände berücksichtigen und zusammenführen. Sie kann jedenfalls nicht wie bisher auf eine gestaltende Rolle verzichten, denn dann geht weiterhin sowohl geldwertes Wissen als auch erhaltenswerte Kulturvielfalt verloren.
Matthias Hüning ist Professor für niederländische Sprachwissenschaft und Mitglied des Interdisziplinären Zentrums Europäische Sprachen am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der FU.
Philipp Krämer forscht dort als Postdoc.
Matthias Hüning, Philipp Krämer
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