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Psychologie: Einsamkeit macht Menschen krank

Der Mensch ist ein soziales Wesen und Einsamkeit belastet ihn. Aber Forscher, die das Gefühl untersuchen, stellen fest:  Es macht ihn auch körperlich krank.

Die Einsamkeit ruht mitten im Meer, genauer gesagt in der Karasee nördlich von Sibirien. Das winzige Eiland ist unbewohnt; öde und schneebedeckt liegt es im Packeis des Polarmeeres. Durchschnittlich beträgt die Temperatur hier minus 16 Grad Celsius. Der Anblick dieser trostlosen Insel muss jenen norwegischen Entdecker, der ihr einst diesen Namen gab, an die schmerzhafte Sehnsucht nach Kontakt zu anderen Menschen erinnert haben. Ensomheden. Einsamkeit. Manchmal befällt uns dieses quälende Gefühl nur kurz, so flüchtig wie ein Lufthauch. Doch mitunter erdrückt uns die Einsamkeit geradezu, beschwört gar Krankheiten herauf oder erstickt jeden Lebensmut.

Das Gefühl zeigt sich vor allem, wenn sich etwas im Leben grundsätzlich verändert – zum Beispiel, wenn Menschen erstmals für längere Zeit das Elternhaus verlassen, den Wohnort wechseln, einen Lebenspartner verlieren oder ihren Arbeitsplatz aufgeben.

Neue, intensive Kontakte zu knüpfen braucht dann häufig Zeit. Viele Menschen sind in solchen Situationen zunächst auf sich allein gestellt, womöglich zum ersten Mal in ihrem Leben. Doch nur wenige reden offen darüber. Wer einsam ist, schämt sich häufig. In den Augen vieler scheint der Einsame in der Gesellschaft versagt zu haben. „Ein Leben ohne intensive Beziehungen entspricht nicht der gesellschaftlichen Norm“, sagt die Soziologin Caroline Bohn, die sich als selbstständige Beraterin auf das Thema Einsamkeit spezialisiert hat. Auch Wissenschaftler haben das Thema Einsamkeit lange gemieden. Doch nach und nach tragen Mediziner und Psychologen, Genetiker und Soziologen immer mehr Erkenntnisse darüber zusammen.

Psychologen unterscheiden zwei Formen von Einsamkeit: Die emotionale Einsamkeit zeigt sich, wenn ein enger Vertrauter fehlt, ein Partner, mit dem man sich eng verbunden fühlt. Die soziale Einsamkeit dagegen weist darauf hin, dass es grundsätzlich an sozialen Beziehungen mangelt, an Unterstützung durch Freunde, Nachbarn oder Kollegen. So erleben etwa Verwitwete weitaus häufiger als Verheiratete belastende emotionale Einsamkeit, jedoch seltener soziale Einsamkeit. Insgesamt fühlen sich zwei Prozent der Deutschen häufig einsam, wie eine repräsentative Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach ergab. Weitere 16 Prozent empfinden gelegentlich Einsamkeit. Andere Befragungen weisen darauf hin, dass junge Menschen sich eher allein fühlen als ältere und dies auch als quälender wahrnehmen.

In einer Umfrage des Deutschen Studentenwerks gaben vier Prozent der Studierenden an, so große Kontaktschwierigkeiten zu haben, dass sie Hilfe wünschen. Weitere elf Prozent verspüren depressive Verstimmungen, die oft auf das Gefühl von Einsamkeit zurückgehen. Womöglich hindert gerade die Angst vor Einsamkeit auch viele Abiturienten daran, die vertraute Umgebung für ein Studium zu verlassen. Denn je weiter eine Hochschule vom Ort der Jugendzeit entfernt ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit einer Bewerbung. Das zeigte jüngst eine Berechnung des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim (ZEW), für die Bewerbungen von 4535 Einser-Abiturienten ausgewertet wurden. Die Anwärter lockt weder die Exzellenz der Forschung ihrer künftigen Alma Mater noch die Bestnote in einer Rangliste. Weitaus wichtiger ist vielen Abiturienten, dass der künftige Studienort nicht weit von ihrer Heimat entfernt liegt.

Dabei erfüllt die Einsamkeit eine wichtige Funktion für den Menschen: So wie Hunger ein Signal ist, dass der Körper nicht genug Nahrung erhält, so warnt die Einsamkeit uns, wenn wir den Kontakt zu anderen verlieren. Denn der Mensch ist ein soziales Wesen. In der Evolution des Homo sapiens war es für jedes Individuum überlebenswichtig, die Verbindung zur Horde zu erhalten. Isolation konnte leicht tödlich enden. Erst in der Gruppe gelang es unseren Vorfahren, sich auf Dauer zu behaupten – und die eigenen Gene an eine neue Generation weiterzugeben. Der US-amerikanische Psychologe John Cacioppo von der University of Chicago bezeichnet Einsamkeit daher auch als „sozialen Schmerz“. Und tatsächlich: Wenn wir von anderen abgewiesen werden, reagieren dieselben Regionen der Großhirnrinde hinter der Stirn wie bei körperlichem Schmerz. Das konnte ein Team von Wissenschaftlern aus den USA und Australien mithilfe von Hirnscannern nachweisen.

Das natürliche Verlangen nach Artgenossen kann Menschen so gefangen nehmen, dass sogar ihre geistigen Fähigkeiten darunter leiden: Einsame vermögen sich schlechter zu konzentrieren und suchen weniger hartnäckig nach der Lösung eines Problems als Nicht-Einsame, wie Cacioppo in Studien herausfand. Aber nicht die Psyche allein reagiert, wenn die Einsamkeit chronisch wird. Eine Analyse von 148 Studien mit Daten von 30.000 Probanden ergab: Menschen mit sozialem Rückhalt leben länger als jene mit weniger stabilen Beziehungen. Die Analyse deutete darauf hin, dass Einsamkeit für die Gesundheit etwa ebenso schädlich ist wie Rauchen, Übergewicht oder Bewegungsmangel. Vor allem bei Männern wächst die Gefahr zu erkranken, wenn enge Bindungen fehlen.

Manche Forscher sagen, Einsamkeit sei vererbbar

Dauerhaft Einsame leiden häufig unter Erschöpfung oder Entzündungen, Kopfschmerzen oder Kreislaufstörungen. Sie sind anfällig für Infektionskrankheiten und produzieren große Mengen an Stresshormonen und brauchen dreimal länger als Nicht-Einsame, um einzuschlafen. Und selbst wenn sie gleich viel schlafen, fühlen sie sich anschließend weniger erholt. Außerdem sind sie gefährdet, sich mit Alkohol oder fett- und zuckerreicher Kost ein Wohlgefühl zu verschaffen, an einer Depression zu erkranken – oder sich selbst das Leben zu nehmen.

Die Pein der Einsamkeit ist allerdings von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. So wie jeder über ein eigenes Maß an Intelligenz verfügt, so fühlt sich jeder an einem anderen Punkt zwischen den Polen von völligem Alleinsein und ständiger Gemeinschaft wohl. Den Grad der Einsamkeit ermitteln Forscher häufig mit einem standardisierten Fragebogen, der „UCLA-Einsamkeitsskala“. Sie zeigt, wie groß die Kluft zwischen den tatsächlichen und den erwünschten Beziehungen ist. Dafür fragen die Wissenschaftler etwa, wie oft sich die Testperson einem anderen Menschen nahe fühlt oder als Teil eines Freundeskreises.

Manche Forscher vermuten, dass wir eine Anfälligkeit für Einsamkeit von den Eltern erben. Doch maßgeblich wird die individuelle Empfindlichkeit in den ersten Lebensjahren geprägt, wie eine Vielzahl von Studien zur sogenannten „Bindungstheorie“ vermuten lässt. Demnach bietet die Beziehung zwischen Kleinkind und Mutter oder einer anderen Bezugsperson auch im späteren Leben noch die Vorlage dafür, wie Menschen das für sie wohltuende Maß von Gemeinschaft finden.

Ein heute noch wichtiges Modell der Bindungstheorie hat die Psychologin Kim Bartholomew von der Simon Fraser University in Kanada entwickelt. Sie unterscheidet bei Erwachsenen vier „Bindungsstile“, die das Erleben von Einsamkeit beeinflussen.

Der sichere Typ macht sich selten Gedanken darüber, dass andere ihn nicht akzeptieren könnten. Er entwickelt schnell erfüllende Beziehungen, aber sorgt sich auch nicht, allein zu sein.

Dem ängstlichen Typ fällt es schwer, anderen zu vertrauen und sich geborgen zu fühlen. Er fürchtet, verletzt zu werden, wenn er anderen zu nahe kommt – obwohl er sich gerade dies gelegentlich sehnlich wünscht.

Der besitzergreifende Typ erhofft sich enge Verbindungen und möchte gleichsam mit anderen verschmelzen. Doch er gewinnt oft den Eindruck, dass andere seinen Wunsch nach Nähe zurückweisen.

Der abweisende Typ will auf niemanden angewiesen sein und auch nicht, dass andere von ihm abhängig sind. Aus Sorge, seine Selbstständigkeit einzubüßen, fällt es ihm schwer, innige Beziehungen einzugehen.

Der Bindungstheorie zufolge kann sich manch einer isoliert fühlen, obwohl er objektiv betrachtet nicht allein ist. Deshalb kann selbst in einem Hörsaal, in dem sich Studenten drängen, oder in einer Firma, in der Angestellte eng zusammenarbeiten, der subjektiv empfundene Mangel von Kontakt zur Last werden.

Einsame fühlen sich gleichsam „eingeschlossen in dem kleinen Rumpf des Kopfes“, wie es der US-amerikanische Schriftsteller Thomas Wolfe formulierte. Sie rechnen häufig bereits damit, keine intensive Verbindung knüpfen zu können. Daher begegnen sie Bekanntschaften von vornherein eher zurückhaltend. Häufig ziehen sich die Mitmenschen daraufhin wirklich zurück – und bestätigen damit das negative Selbstbild des Einsamen. So entwickelt sich ein Teufelskreis, in dem auch bestehende soziale Netzwerke zerbrechen können.

Und noch ein weiterer Prozess führt immer tiefer in die Einsamkeit, wie John Cacioppo 2009 in einer umfangreichen Studie zeigte. Einsame suchen demnach eher die Nähe von anderen, die ebenfalls anfällig dafür sind, sich allein zu fühlen. Zugleich schleicht sich bei jenen, die sich mit Einsamen umgeben, allmählich auch die Angst vor Ablehnung ein – gerade so, als wäre das Gefühl ansteckend und würde sich wie eine Krankheit von Mensch zu Mensch ausbreiten.

Um der Einsamkeit zu entrinnen, hilft zuweilen nur, um professionelle Unterstützung zu bitten – etwa bei psychologischen Beratungsstellen oder Therapeuten. „Wer einsam ist, sollte sich fragen, ob und wie er sich eigentlich selbst akzeptiert“, sagt der Psychologe Eberhard Elbing, der sich vor seiner Emeritierung an der Ludwig-Maximilians-Universität München als einer der wenigen Forscher mit diesem Thema befasste. Wer die Last abschütteln will, muss also vor allem, so trivial es klingt, sein Selbstwertgefühl verbessern und das eigene Verhalten verändern.

Dies zeigt etwa eine Studie, für die John Cacioppo und sein Team 20 Untersuchungen zum Umgang mit Einsamkeit ausgewertet haben. Auf der Basis dieser Analyse empfiehlt er vier Schritte, die er mit dem englischen Wort „ease“ zusammenfasst, was so viel bedeutet wie „erleichtern“ (siehe Kasten).

„Wer sich zur Einsamkeit verdammt fühlt, kann immer noch manches dazu tun, dass seine Einsamkeit gesegnet sei“, formulierte der österreichische Schriftsteller Arthur Schnitzler. Das bedeutet nicht, dass man das Gefühl gutheißt. Aber auch die Suche nach einem positiven Nutzen der Einsamkeit kann helfen. Denn erst die Isolation bietet mitunter die Chance, den Blick nach innen zu richten – und sich mit jenem unüberbrückbaren Abgrund auseinanderzusetzen, der jeden Menschen trotz erfüllender Beziehungen von anderen trennt. Genau darin sieht der Psychiater Irvin Yalom, emeritierter Professor der Stanford University, einen der wichtigsten Wege zu mehr Selbstsicherheit und Wohlbefinden.

Vielfach erklären Künstler und Wissenschaftler gar, dass gerade die schmerzvolle Abgeschiedenheit es ihnen ermöglicht, einzigartige Werke zu vollbringen. „Nichts kann ohne Einsamkeit entstehen“, stellte Pablo Picasso fest. Der Philosoph Arthur Schopenhauer behauptete gar: „Ein Hauptstudium der Jugend sollte sein, die Einsamkeit ertragen zu lernen, weil sie eine Quelle des Glückes und der Gemütsruhe ist“. Und auch Wilhelm von Humboldt, der im 19. Jahrhundert das moderne Verständnis der Universität prägte, glaubte, der wahrhaft forschende Geist sei vor allem auf zweierlei angewiesen, auf Freiheit – und Einsamkeit.

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