Wandern im Riesengebirge: Eine Baude auf jedem Gipfel
Wer auf Schneeschuhen durchs Riesengebirge wandert, erlebt schöne Aussichten und traditionelle polnische Gastlichkeit.
Schmaler kann dieser Pfad kaum sein. Rechterhand, vielleicht einen halben Meter entfernt, gurgelt das Wasser über die Steine und Felsbrocken des Gebirgsbachs. Links macht sich der schneebedeckte Zweig einer Fichte breit. Wie soll man „ungepudert“ dran vorbeikommen? Der Aufstieg, zumal mit Schneeschuhen, hat seine Tücken. Die sperrigen Untersetzer brauchen Platz – und sind doch unerlässlich.
Die Schneedecke auf dem „Böhmersteig“ im polnischen Riesengebirge ist knöcheltief, mit normalen Bergstiefeln sinkt man ein und muss einen Fuß nach dem anderen mühsam rausziehen. Je länger das dauert, umso mehr Kraft kostet es. Und der Weg steigt jetzt längst nicht mehr so sanft an wie zu Beginn. Noch vier Kilometer bis zum Ziel, bis zur Hütte, zur Baude, wie es in Polen heißt.
Schneeschuhe sind keine Mini-Ski. Sie erleichtern das Wandern, aber man gleitet nicht vorwärts. Vor allem nicht, wenn der Schnee wie jetzt schwer und pappig ist und zentimeterdick an den Sohlen klebt wie Kaugummi. „Bei Pulverschnee geht es leichter“, sagt Patrycja Osciak, die Führerin der Gruppe. Sie war mal bei der Bergwacht. Vorhin hat die 32-Jährige dabei geholfen, überhaupt in die Schneeschuhe zu kommen. Die haben Schienen, Riemen und Verschlüsse. Was wie wo hineingehört, das muss man erst mal verstehen. Außerdem ist die Technik wichtig beim Schneeschuhwandern. Es gilt, immer über den ganzen Fuß abzurollen, ungefähr so wie beim Skilanglauf. Wer ständig die Knie hebt, verliert Kraft.
Bloß den Rübezahl nicht verärgern
Im 700 Meter hoch gelegenen Schreiberhau (Szklarska Poreba), 20 Kilometer von Jelenia Gora entfernt, sind wir gestartet. Über uns, jetzt im Nebel verborgen, muss die Schneekoppe sein. Exakt 1602 Meter hoch ist ihr Gipfel. Wenn man dem „Böhmersteig“ bis zum Ende folgt, landet man bei der Elbquelle, die liegt knapp hinter der Grenze, in Tschechien. Wir finden den Namen „Rübezahlweg“, schließlich sind wir im Riesengebirge, übrigens passender.
„Rübezahlweg sagen die Polen nicht“, erklärt Patrycja. Das könnte ihn verärgern, den Rübezahl. Die Polen sagen, wenn’s denn mystisch sein soll, lieber „Berggeisterweg“ zu dem sieben Kilometer langen Steig. Wir sind auf den letzten, steilsten Metern. Gleich ist die Hütte auf der Schneekoppe erreicht. Genauer gesagt: die Alte Schlesische Baude. Wie ein großer Bauernhof wirkt sie. Und bietet Unterkunft, Restaurant und Ruheraum für erschöpfte Wanderer, die im Nebel orientierungslos Umwege gestapft sind.
Im Flur, so breit, dass ein Lastwagen problemlos Platz hätte, kann man die Schneeschuhe abstreifen. Der Gastraum gleicht einer rustikalen, düsteren Bierkneipe. Dunkel lackierte Holztische, ein wuchtiger Kamin und das Geweih eines Vierzehnenders an einer der mit dunklem Holz verschalten Wände. Die Regale hinterm Tresen sind mit Bier- und Schnapsflaschen gut bestückt.
365 Tage im Jahr 24 Stunden am Tag geöffnet
Das Gedudel aus dem Radio vermischt sich mit dem Klappern von Geschirr. Der Wirt und seine Familie werkeln in der Küche. Seit 1980 wohnen sie hier oben. Das einzige Auto vor der Tür gehört ihnen. Sie haben die Baude gepachtet. Nahezu jede Baude im Riesengebirge gehört dem polnischen Tourismusverband. Nur die auf der Schneekoppe ist in Privatbesitz.
Über dunkle Steinstufen kommt der Gast zu den Betten, 15 befinden sich in diesem Gebäude. Im Nachbarhaus sind noch mal 35 Betten. Sie verteilen sich in Vierer-, Fünfer- oder Sechser-Zimmern, pro Schlafstatt zahlt man sieben Euro. Gemeinsame Waschräume sind auf der Etage. Es gibt auch Doppelzimmer mit Dusche für 30 Euro pro Nacht und Person. Frühstück wird extra berechnet.
Im 16. und 17. Jahrhundert waren Bauden nur bessere Wärmestuben für Zöllner. Erst ab 1890 entstand das flächendeckende Baudensystem, entwickelt vom Riesengebirgsverein für Touristen. Bauden sind immer geöffnet, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr. Wer nachts ankommt, kann seinen Schlafsack im Gastraum auslegen. Sogar Essen und Trinken kann jeder mitbringen. Andererseits: Die Wirte müssen natürlich auch von etwas leben.
Im Wintersport-Städtchen Karpacz (Krummhübel), direkt neben der Sesselliftstation, beginnt der Weg zur Hampelbaude. Wuchtig steht sie auf 1200 Meter Höhe. Der Wald drumherum gehört schon zum Nationalpark. Unter dem Schnee liegen Eisplatten, so dass wir so etwas wie Krallen unter den Schneeschuhen befestigen. Wie Steigeisen hängen sie an den Sohlen und helfen beim Weitergehen.
Illustre Gäste haben hier übernachtet
Der Weg ist breit, wird aber immer steiler, das Panorama ist überwältigend. Unten erstreckt sich das Hirschberger Tal, oben erhebt sich die Schneekoppe. Wir haben keine Muße, lange umherzuschauen. Unsere Blicke richten sich zum Boden. Der Schnee ist nass und schwer, er klebt an den Schuhen, die Krallen greifen nicht richtig. Das Vorwärtskommen ist anstrengend, das Atmen fällt schwerer.
Oben, an der Hampelbaude, bläst zudem ein unbarmherziger, starker Wind. 400 Meter höher auf der Schneekoppe, so verrät der Wetterbericht, soll die Windgeschwindigkeit 90 Meter pro Sekunde betragen. Manche aus der Gruppe fangen an zu maulen. Man kann schließlich auch mit dem Skilift zur Hampelbaude hinauffahren.
Unser Aufstieg hat knapp zwei Stunden gedauert. Wuchtige Steinstufen führen zum Gastraum der Hampelbaude, alles hier ist größer, gemütlicher und heller als in der Alten Schlesischen Baude. Der Ofen ist grün gekachelt, die Holzverschalung an den Wänden ist hellbraun. Auch hier stehen viele Flaschen mit Hochprozentigem hinter der Theke. Wer mag, kann warmes Bier mit Himbeersaft trinken. Oder Bier, in dem Gewürznelken schwimmen.
110 Betten sind im Haus verteilt, hier kostet selbst ein Ein- oder Zweibettzimmer nicht mehr als zehn Euro. Die Hampelbaude – benannt nach ihrem ersten Wirt, einem Deutschen namens Hempel oder Hampel – gilt als ältester Unterschlupf im Riesengebirge. Viele illustre Gäste haben hier schon übernachtet. Auch Goethe soll in der Hampelbaude auf Heu geschlafen haben, bevor er im Morgengrauen des 23.September 1790 in Begleitung seines Dieners die Koppe bestieg, um den Sonnenaufgang zu erleben.
Die meisten Touristen kommen aus Deutschland
Wer in Schneeschuhen flott hinunterstapft, gelangt binnen zehn Minuten zu einer Art von überdimensionalem Puppenhaus. Das ist die Kleine Teichbaude. Der Name macht Sinn. Der Teich vor dem Haus ist wirklich nicht groß, und es gibt nur 50 Betten und der Gastraum gleicht einem geräumigem Wohnzimmer.
Hinter der Theke steht Grazyna Zalecka, 63 Jahre alt, schwarze Brille, wacher Blick. Die Rentnerin wohnt eigentlich in Stettin, aber sie arbeitet in der Baude, seit sie 18 Jahre alt ist. Ihr machte es Spaß, sagt sie, und so komme sie in jedem Jahr wieder für Monate herauf. Die meisten Touristen kämen aus Deutschland erzählt sie. „Das hat Tradition.“ Aber inzwischen lassen sich auch immer mehr Holländer hier oben bewirten und natürlich Polen aus allen Ecken des Landes. Grazyna Zalecka zeigt ein Foto aus Zeiten eisiger Wintertage. Alle Fenster der Baude waren hinter einer Schneedecke verschwunden. Die Tür war frei geschaufelt – für eventuelle Ankömmlinge.
An einem Tag, an dem der Schnee beim Aufstieg nur zwei Handbreit hoch liegt, ist der Abstieg nach Karpacz fast ein flotter Spaziergang. Die Wege sind bald breit wie eine Autobahn, die Schneekrallen greifen gut. Binnen einer Stunde ist das Städtchen erreicht und wir stehen vor der berühmten Stabkirche. Die wurde im 12. Jahrhundert im südnorwegischen Wang gebaut. Siebenhundert Jahre später wurde den Bewohnern von Wang ihre Kirche zu klein, sie verkauften sie. In Karpacz wurde das Gotteshaus wiederaufgebaut – aber das ist eine andere Geschichte.
Franz Stromer