Tony Ray-Jones' England: Ein Volk von Exzentrikern
In den 60ern zog Tony Ray-Jones los, das England festzuhalten, das es bald nicht mehr gab. Nun sind die Fotos in London zu sehen.
England ist auch nicht mehr, was es mal war: eine Insel, auf der alles anders ist. Der Cappuccino hat den Tee verdrängt, statt nach Blackpool fährt die Jugend lieber nach Berlin, und auch die älteren Herrschaften legen sich nicht mehr in Schlips und Kragen in den Liegestuhl.
Tony Ray-Jones hatte schon in den sechziger Jahren das Gefühl, dass das Besondere verschwindet. Der hochbegabte Brite war als 19-Jähriger in die USA gegangen, hatte in Yale studiert und in New York gearbeitet. Aus der Distanz sah er die Heimat in klarerem Licht. Und so machte er sich auf den Weg, festzuhalten, was es in dieser Form bald nicht mehr geben würde. Am liebsten beobachtete er seine Landsleute in der Freizeit: in Glyndebourne beim Opernfestival und in Windsor bei der Horse Show, beim sommerlichen Karneval und im fast leeren Ballsaal. Tony Ray-Jones zeigt England als Kollektiv von Exzentrikern und Individualisten.
„Only in England“ heißt die große Ausstellung seiner kleinen Meisterwerke, die jetzt, ein knappes halbes Jahrhundert später, in der neuen Fotogalerie des Londoner Science Museums gezeigt wird. Für Insider ein einflussreicher Klassiker, wird Ray-Jones für viele eine große Entdeckung sein – der Sohn eines Künstlers starb 1972, erst 30-jährig, an Leukämie. Kuratiert wurde die Schau von Magnum-Star Martin Parr, der deutlich von Ray-Jones beeinflusst wurde, wie auch seine frühen Aufnahmen zeigen, die hier hängen.
Schieß nicht zu viel
Beide Fotografen zieht es vor allem an den Strand, denn nirgends waren und sind die Engländer englischer als hier. Ganz systematisch ging Ray-Jones an sein Projekt heran, stellte sich Leselisten über England zusammen, notierte genau, wie er sich einem fremden Ort am besten nähern wollte: Bahnhof, Bibliothek, Marktplatz ... „Rede mit den Leuten,“ ermahnte er sich auf seinem Spickzettel. „Bleib am Thema. Sei geduldig.“
„Keine langweiligen Fotos“ hieß seine Devise. Seine durchkomponierten Bilder wirken oft wie Szenen aus einem Theaterstück oder Standbilder aus einem Film. Als hätte jemand die Menschengruppen arrangiert, das Liebespaar auf dem Ausflugsboot etwa, mit den anderen Passagieren im Hintergrund. Oder den glatzköpfige Juror des Schönheitswettbewerbs, der ungerührt an seiner Tasse Tee nippt, während sich neben ihm die Kandidatinnen im Badeanzug langweilen.
Oft weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll, auch die komischsten Bilder von Ray-Jones haben etwas sehr Melancholisches. Tiefdunkel sind viele der Schwarz-Weiß-Bilder. Die Entschlossenheit der Menschen, den Umständen zu trotzen, sich trotz allem zu vergnügen, hat etwas Rührendes, fast Verzweifeltes. Egal, wie grau der Himmel, wie nass und kalt der Strand, sie setzen sich ihre Kopftücher auf, spannen den Regenschirm auf und machen Picknick.
In einer Welt, in der nonstop geknipst wird, wirkt Ray-Jones wohltuend anachronistisch. „Schieß nicht zu viel“, ermahnte er sich.
— Only in England, Fotos von Tony Ray-Jones und Martin Parr, Media Space im Science Museum London, Exhibition Road, bis zum 7. Februar 2014