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Flaschensammler schaut in die Mülltonne.
© Kai-Uwe Heinrich

Corona und soziale Ungleichheit: „Ein Rettungsschirm für die Ärmsten“

Die Corona-Krise trifft die sozial Benachteiligten besonders hart. Experten forderen spezielle Hilfsprogramme für ärmere Menschen.

Vor allem Menschen, die in prekären sozio-ökonomischen Verhältnissen leben und aus bildungsfernen Familien stammen, haben Angst vor den Auswirkungen der Coronakrise. Das ergibt eine Umfrage der Initiative „Netzwerk Chancen“, die dem Tagesspiegel exklusiv vorliegt. Die Initiative fordert unbürokratische Hilfen – auch für Arbeitnehmer und Studierende.

„Die Coronakrise trifft junge Menschen aus benachteiligten Familien besonders hart. Ohne ein vorhandenes finanzielles oder familiäres Sicherheitsnetz verursacht die gegenwärtige wirtschaftliche Lage Existenzängste“, erklärt Natalya Nepomnyashcha, Gründerin und Geschäftsführerin von Netzwerk Chancen.

Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie hat die Initiative per Onlinefragebogen eine qualitative Befragung von rund 70 ihrer Mitglieder durchgeführt, um Sorgen und Ängste zu identifizieren. Das Netzwerk Chancen wurde 2016 in Berlin gegründet und setzt sich seitdem für Chancengleichheit ein. „Wir bieten ideelle Förderung für über 500 junge Erwachsene zwischen 18 und 39 Jahren, die aus bildungsfernen oder finanzschwachen Familien stammen“, erklärt Nepomnyashcha.

Zukunftsängste der Benachteiligten

Die Auswertung der Online-Befragung zeigt: In Corona-Zeiten fühlt sich diese Gruppe besonders verunsichert. Neun von zehn der jungen Menschen aus benachteiligten Verhältnissen haben krisenbedingte Zukunftsängste.

Woran liegt das? „Weil sie stärker als Mitglieder gut situierter und privilegierter Gruppen fürchten, die ökonomischen und sozialen Folgen der Corona-Pandemie ausbaden zu müssen, sei es unmittelbar oder aufgrund wachsender Staatsschulden durch eine höhere steuerliche Belastung im Erwerbsleben“, sagt der Armutsforscher Christoph Butterwegge auf Anfrage. Zudem fühlten sich junge Menschen durch Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote aufgrund ihrer hohen Mobilität „verständlicherweise in ihren persönlichen Bewegungsmöglichkeiten extrem stark eingeengt“.

Der Armutsforscher Christoph Butterwegge.
Der Armutsforscher Christoph Butterwegge.
© promo

Viele der vom Netzwerk Chancen Befragten sind aktuell an einer Hochschule eingeschrieben. Fast jeder Dritte befürchtet nach der Coronakrise negative Folgen für seine Ausbildung. „Studierende bilden eine Personengruppe, die bisher kaum im öffentlichen Fokus steht, wenn es um die Auswirkungen der Pandemie geht“, stellt Butterwegge fest. „Von den staatlichen Förderprogrammen dürften sie kaum profitieren, und die Bafög-Sätze werden auch nicht angehoben“, kritisiert der Wissenschaftler, der bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt hat.

70 Prozent äußern finanzielle Sorgen

Hier könnte der Vorstoß von Anja Karliczek (CDU) helfen. Die Bundesbildungsministerin hat am Ostersonntag unbürokratische Finanzhilfen für Studierende angekündigt. Sie sollen als Überbrückungshilfe ein zinsloses Darlehen beantragen können. Noch ist jedoch unklar, wie das Darlehen umgesetzt werden soll.

Doch nicht nur Studierende befürchten Einschnitte. Gegenüber dem Netzwerk Chancen haben 70 Prozent der Befragten finanzielle Sorgen geäußert, dass sie etwa von Jobverlust oder Kurzarbeit betroffen sind – oder damit rechnen.

„Am stärksten treffen Krisen immer die Einkommensschwächsten“, kommentiert Butterwegge. Das gelte in der Coronakrise für prekär Beschäftigte, Leiharbeiter und Randbelegschaften ebenso wie für Solo-Selbstständige, manche Freiberufler und Kleinunternehmerinnen, denen Aufträge oder Auftritte wegbrechen. Ganz besonders betroffen seien natürlich Obdachlose und Menschen, die für ihren Lebensunterhalt betteln, Verkäufer und Verkäuferinnen von Straßenzeitungen und Pfandsammelnde.

Hintergründe zum Coronavirus

„Die Straßen sind leer gefegt und die wenigen Passant*innen fürchten, sich anzustecken“, sagt Butterwegge. Dramatisch sei auch die Schließung der Lebensmitteltafeln. Natalya Nepomnyashcha verweist auf die Diskrepanz zwischen privilegierten Arbeitnehmern, die sich ins vergleichsweise bequeme Homeoffice zurückziehen können und jenen, „die die Krise wirklich hart trifft“.

Christoph Butterwegge sieht hier Menschen mit besser bezahlten Jobs klar im Vorteil: „Je höher die berufliche Position beziehungsweise der soziale Status ist, umso leichter kann man auch zu Hause arbeiten, denn es geht in diesem Fall eher um eine Schreibtischtätigkeit.“ Auf diese Weise lasse sich auch das Betreuungsproblem durch geschlossene Kitas und Schulen besser lösen. „Beschäftigte im Niedriglohnsektor haben diese Möglichkeit, sich um ihre Kinder zu kümmern, hingegen äußerst selten“, so Butterwegge.

Neoliberale Gesundheitspolitik

Natalya Nepomnyashcha fordert unbürokratische Unterstützung für Arbeitnehmer und Studierende. Auch Butterwegge spricht sich für staatliche Fördergelder aus. Er erkennt eine soziale Schieflage bei den Unterstützungsmaßnahmen und fordert einen Rettungsschirm für die Ärmsten.

Konkret hält Butterwegge einen Ernährungszuschlag in Höhe von monatlich 100 Euro für notwendig. „Einem alleinstehenden Hartz-IV-Bezieher werden für Nahrung und Getränke gerade einmal 150 Euro im Monat zugebilligt. Davon kann niemand gesund leben. Erst recht nicht, wenn Tafelläden wie Sozialkaufhäuser geschlossen sind und man durch Essen von Obst und Gemüse das Immunsystem stärken muss.“

Die Coronakrise bietet aus Sicht des Armutsforschers aber auch Chancen. So könne sich die Erkenntnis verbreiten, dass eine neoliberale Sozial- und Gesundheitspolitik dem Gemeinwesen schade und Solidarität der Bevölkerungsmehrheit eher nutze als Wettbewerbswahn und Ellenbogenmentalität. „Dann hätte das Virus für die Gesellschaft am Ende auch etwas Gutes bewirkt“, sagt Butterwegge.

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