Ausstellung: Ein Mann gegen den Völkermord
Johannes Lepsius, sein Potsdamer Haus und die Erinnerung an den millionenfachen Tod der Armenier
Behaglich liegt das einstöckige Haus am Fuße des Potsdamer Pfingstbergs, fünf Fenster schauen in Richtung Cecilienhof. Nichts deutet darauf hin, dass hier an ein furchtbares Verbrechen der jüngeren Geschichte erinnert wird. Das Lepsius- Haus, benannt nach seinem Eigentümer Johannes Lepsius, wird als „Forschungs- und Begegnungsstätte“ geführt. Den Gegenstand der Forschung benennt kein Türschild, wohl aber ein Findling im Garten, in den der schlichte Satz eingemeißelt ist: „Von diesem Ort in Potsdam führte Dr. Johannes Lepsius (1858-1926) seinen Kampf gegen den Völkermord an den Armeniern“.
Mord, Völkermord, Holocaust – die Begriffskette ist in Deutschland gegenwärtig. Der staatlich verordnete Mord an den Armeniern im Machtbereich des Osmanisches Reiches ab 1915 hingegen, dem wohl 1,3 Millionen Menschen zum Opfer fielen, blieb hierzulande unbeachtet. In der heutigen Türkischen Republik bildet er noch immer ein Tabuthema.
Gelegentlich dringt das armenische Drama ins öffentliche Bewusstsein, etwa als der rechtsgerichtete türkische Ministerpräsident Erdogan im April ein ausdrücklich als „Versöhnungsmahnmal“ errichtetes Kunstwerk nahe der Grenze zum heutigen Staat Armenien niederwalzen ließ. In Genf, einem Sitz von UN-Institutionen, rief zur selben Zeit ein Denkmalsprojekt den Protest in der Schweiz lebender Türken hervor, begleitet von einer Demarche beim Berner Außenministerium.
Die Wogen des türkisch-armenischen Historikerstreits waren also keineswegs geglättet, als Kulturstaatsminister (BKM) Bernd Neumann im Mai das Lepsius-Haus eröffnete. Aus dem Etat des im Kanzleramt angesiedelten BKM flossen mit 530 000 Euro rund zwei Drittel der Kosten für die Wiederherstellung und Einrichtung des Hauses, einem Beschluss folgend, den der Deutsche Bundestag sechs Jahre zuvor nach der allerersten parlamentarischen Erörterung der Ereignisse von 1915 gefasst hatte.
Über die Geschehnisse der Jahre 1915/16, die im Osten Anatoliens ihren Ausgang nahmen, gibt es in wissenschaftlicher Hinsicht keinen Dissens. Das Problem ist die politische Bewertung. Das Problem ist die Weigerung der offiziellen Türkei, dieses Geschehen als Völkermord seitens der damaligen Befehlshaber aus den Reihen der „Jungtürkischen Bewegung“ anzuerkennen.
Neumanns diplomatischer Hinweis, in der Türkei gebe es „unterschiedliche Bewertungen zur Verfolgung und Vernichtung des armenischen Volkes“, wird angesichts der Dauerausstellung des Lepsius-Hauses zur bloßen Floskel. Denn die Ausstellung zeigt, eingebettet in die Lebens- und Wirkungsgeschichte von Johannes Lepsius, anhand von Fotografien und knappen Erläuterungen ein Drama, das in unaufhaltbarer Konsequenz seinen Lauf nahm, bis hin zu den Todesmärschen in den Wüsten Syriens, das damals dem Osmanischen Reich zugehörte. Und es sind dies keine neuen Erkenntnisse, sondern genau diejenigen, die bereits Lepsius hatte – und die er, von diesem Haus aus, 1916 in seinem „Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei“ geschildert und trotz Militärzensur in nicht weniger als 20 000 gedruckten Exemplaren überallhin versandt hatte. Zuallererst an diese persönliche Geschichte, die Geschichte eines mutigen und der Wahrheit verpflichteten Mannes, will das von einem privaten Förderverein getragene Lepsius-Haus erinnern. Es verdankt nur die Anschubfinanzierung dem Kulturstaatsminister, muss jedoch ab 2012 auf eigenen Beinen stehen.
Das armenische Drama konnte verdrängt werden, weil keine der beteiligten Mächte ein Interesse an der Aufarbeitung hatte. Lesen Sie weiter auf Seite 2.
Der Theologe und Orientalist Johannes Lepsius war ein Sohn des berühmten Berliner Orientalisten und Begründers des Ägyptischen Museums, Richard Lepsius. Seit den ersten, mit mindestens 100 000 Opfern seinerzeit unvorstellbar blutigen Pogromen an den Armeniern Ostanatoliens Ende des 19. Jahrhunderts widmete sich Johannes Lepsius der Lage der Armenier. In ihren Siedlungsgebieten baute er ein weitreichendes Hilfswerk mit Schulen und Waisenhäusern auf. 1915 hatte er jene Unterredung mit dem türkischen Kriegsminister Enver Pascha, die Franz Werfel in seinem 1933 erschienenen Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ zu literarischer Form verdichtete.
Der für das Veranstaltungsprogramm des Hauses zuständige Rolf Hosfeld, von Haus aus Germanist, macht die aktuelle Dimension des Armenien-Streites deutlich. Die Türkei, so Hosfeld, befinde sich „seit einigen Jahren in einem Kulturkampf um die Deutungshoheit über Geschichte und Gegenwart“, ein Kulturkampf, der bereits „zu politischen Morden und politischer Justiz geführt“ habe und „viele Ähnlichkeiten mit dem Deutschland der Weimarer Republik aufweist“. Bezeichnenderweise wurde der türkische Ex-Innenminister Talaat Pascha, ein Hauptbetreiber des Genozids, im März 1921 in seinem Berliner Exil von einem armenischen Studenten erschossen – der wiederum, nicht zuletzt aufgrund der Erkenntnisse von Lepsius über das Ausmaß der regierungsoffiziellen Verantwortung, vom deutschen Gericht freigesprochen wurde.
Das armenische Drama konnte verdrängt werden, weil keine der beteiligten Mächte ein Interesse an der Aufarbeitung hatte, ja überhaupt noch als Staat vorhanden war – weder die Osmanische Türkei noch das Deutsche Kaiserreich. Der Genozid an den Armeniern war nur eines von zahlreichen umstrittenen Ereignissen des furchtbaren Ersten Weltkriegs.
In ihm war das Deutsche Reich engster Verbündeter der Türkei. Als die türkische Regierung die armenisch-christliche Minderheit im Land als vermeintlich illoyal ab dem Frühjahr 1915 zunächst willkürlich, bald jedoch planmäßig zu vertreiben und zu dezimieren begann, wussten die deutschen Diplomaten genau Bescheid. Bereits im Juni 1915 erhielt die Reichsregierung Depeschen, denen zufolge der Bündnisgenosse beabsichtige, „die Armenier zu vernichten“. Reichskanzler Bethmann-Hollweg jedoch wies jedes Ansinnen auf Intervention barsch zurück: „Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht.“ Gustav Stresemann, der spätere deutsche Außenminister und Friedensnobelpreisträger, notierte 1916 lakonisch, „Armenier-Verminderung 1-1½ Millionen“ – ein Beleg dafür, wie verbreitet die Kenntnis der türkischen Vorgänge innerhalb der deutschen Führungselite tatsächlich war. Doch die Geschichte ging über die Armenier hinweg. Hitler meinte 1939 verächtlich vor Generälen, als er sein Vorhaben der Ermordung aller Juden ansprach: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“
Der polnische, in die USA emigrierte Jurist Raphael Lemkin prägte unter dem Eindruck der armenischen Gräuel bereits 1934 den Begriff „Genozid“. Er war maßgeblich an der Formulierung der UN-Konvention gegen den Völkermord von 1948 beteiligt. Die von Mustafa Kemal „Atatürk“ geschaffene türkische Republik allerdings lehnt seit jeher die Anerkennung der historischen Tatsachen ab. „Wir haben es mit einer seit 1923 von staatlicher Seite indoktrinierten Nation zu tun“, erläutert Hosfeld, einer „Nation, deren Gründungsmythos auf einem geleugneten Völkermord beruht“. Die Errichtung des Lepsius-Hauses in Potsdam wurde denn auch von lautstarken Protesten hiesiger türkischer Organisationen begleitet.
Weiter ist die Scientific Community. In einem kürzlich vom Genozid-Forscher Norman Naimark herausgegebenen Sammelband bei Oxford University Press benennen gerade türkische Wissenschaftler die 1915 verfügte „Endlösung der armenischen Frage“ in aller Deutlichkeit.
Dem Förderverein Lepsius-Haus aufzutragen – wie Kultusstaatsminister Neumann in seiner Eröffnungsrede –, „auch die türkische Sichtweisen“ der Ereignisse von 1915/16 „auf einer Tafel in der Ausstellung“ zu dokumentieren, lässt sich nur mit Staatsräson und dem angespannten deutsch-türkischen Verhältnis erklären. Johannes Lepsius indessen war ein Mann, der sich um Staatsräson nicht kümmerte – um der Wahrheit willen und der Millionenschaft ermordeter Armenier.
Potsdam, Große Weinmeisterstr. 45. Führungen nur nach Anmeldung unter Tel.: 0176-76527624. Weitere Infos und Veranstaltungen unter www.lepsiushaus-potsdam.de