Schottland: Ein Hut voll Ironie
Glasgow, einst rußiges Aschenputtel, sieht nun aus wie frisch gewaschen. Tolle Bauten, große Kunst. Doch das Beste: die freundlich-offenen Bewohner.
Noch neunmal schlafen, dann ist es so weit: Dann beginnen in Glasgow die Commonwealth Games. Seit Monaten schon sind die Glaswegians („Glaßwiedschens“ gesprochen) ganz aufgeregt. Es ist eine freudige Aufregung. Mögen andere Städte gebeutelt und genervt sein von solchen Großereignissen, Glasgow hat ihnen viel zu verdanken. 1990: Europäische Kulturhauptstadt, 1999: UK City of Architecture and Design, 2003: Europäische Sporthauptstadt. Mit jedem Titel kam nicht nur Geld, sondern vor allem Leben, neuer Schwung in die alte, gebeutelte Industriestadt.
Und neue Architektur. Jüngstes Glanzstück: das SSE Hydro von Norman Foster, eine rasante Sport- und Musikhalle am River Clyde für 14 000 Zuschauer, die im Herbst eröffnet wurde. Jetzt wird dort Netzball gespielt, eine der Spezialitäten der Commonwealth Games, diesen quasi Olympischen Spielen der Länder, die vom British Empire übrig geblieben sind, und bei denen auch Cricket und 7er Rugby auf dem Programm stehen.
Als Bill Bryson in den 70er Jahren nach Glasgow kam – damals noch kein Bestsellerautor, sondern junger Amerikaner auf großer Britannientour –, war er zutiefst schockiert. Etwas so Schwarzes, Schäbiges, Trostloses wie die heruntergekommene schottische Stadt hatte er noch nicht erlebt, erzählt er in seinem Buch „Reif für die Insel“.
Noch in den 70ern gab es keine Touristen, heute kommen 2,3 Millionen im Jahr
Heute schlendert man durch das neue Kunstzentrum Trongate 103, untergebracht in einem alten Gewerbegebäude, und stößt auf Bildbände mit Fotos, die erinnern an Brysons Eindrücke – und an „Oliver Twist“: rußgeschwärzte Slums, Kinder in Lumpen. Ein solches Elend, im Nordeuropa der 1960er Jahre, man traut seinen Augen kaum. Dagegen ging’s dem Ruhrgebiet, das ebenfalls mit dem dramatischen Untergang der Industrie zu kämpfen hatte, gold.
Bei seinem Besuch in den 70ern fiel Bill Bryson noch etwas auf: Es gab keine Touristen. Nicht einen einzigen, wie er betont. (Außer ihm selbst.) Heute kommen 2,3 Millionen im Jahr. Und 2014 werden es mit Sicherheit noch mehr werden. Denn das Jahr hatte noch nicht richtig begonnen, da erklärten alle möglichen Medien vom „Guardian“ über die „International Business Times“ bis zur „Marie Claire“ Glasgow zu einem der Top-Ziele, zum „Must-See“.
Inzwischen sieht die Stadt an vielen Stellen wie frisch gewaschen aus. Die meisten alten Gemäuer, natur oder rot, sind sandgestrahlt. Doch noch immer ist die Stadt nicht so lieblich und adrett wie das nahe gelegene Edinburgh. Wie in Berlin sieht man auch in Schottlands Hauptstadt der Kreativen Ruppiges, Hässliches, was die lebendige Stadt nur interessanter macht. Es gibt so viel zu gucken und zu tun, dass ein langes Wochenende kaum reicht.
Einfach so hineinspazieren und Kunst betrachten
Heute kommen die Touristen zum Shoppen und Essen, um Kunst anzuschauen oder Musik zu hören. Im November werden in Fosters futuristischem Hydro die MTV Europe Music Awards verliehen. Wo, wenn nicht hier? Schließlich wurde Glasgow 2008 zur „Unesco City of Music“ ernannt. Hier wurden Gruppen wie Franz Ferdinand groß, traten Oasis im legendären King Tut’s Wah Wah Hut auf, kann man jeden Abend in Pubs und Clubs Livemusik hören.
Glasgow Miracle, mit dem Ausdruck wurde ursprünglich das Wunder beschrieben, dass die schottische Arbeiterstadt eine solche Vielzahl erfolgreicher Künstler hervorgebracht hat: reihenweise Turner-Preisträger, die die Kunsthochschule von Charles Rennie Mackintosh besucht und in – preisgünstigen – Ateliers gearbeitet haben. Einer dieser Stars, Douglas Gordon, hat soeben eine große Ausstellung in der Gallery of Modern Art eröffnet. Der prächtige, mächtige, säulengeschmückte Bau, den die Galerie sich mit der Stadtbücherei teilt, war früher der finanzielle Umschlagplatz der Stadt, mitten in deren Zentrum. Dass die Menschen jetzt einfach so hineinspazieren und Kunst betrachten können – wie bei den meisten Museen der Stadt ist der Eintritt frei –, das gefällt Gordon ganz besonders.
People’s Palace, so heißt Glasgows populäres sozialgeschichtliches Museum, aber den Titel könnte man vielen Gebäuden umhängen, allen voran dem Kelvingrove Museum. In der gigantischen Wunderkammer ist von alten Rüstungen bis zu impressionistischer Malerei so ziemlich alles zu erkunden, was die Menschheit hervorgebracht hat. Zurzeit ist dort auch eine Ausstellung über Glasgows erste Blütezeit im 18. und frühen 19. Jahrhundert zu sehen. Vor allem am Wochenende zieht es Heerscharen von Familien hierher. Mehr als eine Million Besucher im Jahr zählt das Museum in der historischen Uni-Gegend.
Das beste Mittel gegen Tränen
Dicht dahinter: das Riverside Museum, ein anderer Magnet. Der extravagante Bau von Zaha Hadid, der die Transportsammlung beherbergt, wurde im vergangenen Jahr zum Europäischen Museum des Jahres gekürt. Nicht allein wegen der zackigen Architektur, sondern wegen der Präsentation, nach allen Regeln der modernen Museumspädagogikkunst. Puristen mag das Riverside zu vollgestopft sein, die Besucher freut’s, all die Fahrräder und Trams, die Kinderwagen, Autos und Schiffsmodelle zu sehen.
Als „Glasgow Miracle“ lässt sich die Entwicklung der knapp 600 000 Einwohner zählenden Stadt beschreiben, die sich immer wieder neu erfindet. So wie aus der alten Börse das Museum für moderne Kunst wurde, zog Jamie Oliver mit seinem Restaurant in die alte Post ein und das Design-Hotel Blythswood in den einstigen Automobilklub. Eine gelungene Transformation. In der Bar im ersten Stock trifft man viele Einheimische.
Dass hier vor nicht allzu langer Zeit das Zentrum des Rotlichtviertels lag, sieht man dem Blythswood Square mit seiner eleganten klassizistischen Architektur und dem malerischen Park in der Mitte nicht an. Allerdings ist das Grün nun eingezäunt und verschlossen: Es habe, so verrät ein Schild, Randale gegeben.
Der Londoner tut so etwas nicht
„So ziemlich jede Film- und Videoarbeit von ungefähr 1992 bis heute“ hat Douglas Gordon seine Ausstellung genannt. Der Künstler mag zwar inzwischen mehr in Berlin und New York als in seiner alten Heimat wohnen – deren Humor hat er sich bewahrt. In Glasgow, so prahlen die Einheimischen, geht es auf einer Beerdigung lustiger zu als auf einer Hochzeit in Edinburgh. Es ist ein besonderer, schwarzer Humor, oft aus der Verzweiflung geboren. Das beste Mittel gegen Tränen.
Der Humor ist auch das, was die Schriftstellerin Rachel Seiffert am meisten vermisst, seit sie nach London gezogen ist. Neben der Offenheit der Menschen: „Sie sprechen einen an!“, sagt sie mit hörbarem Staunen. Der Londoner tut so etwas nicht. Der „Telegraph“ hat Glasgow denn auch zu einer der nettesten Städte der Welt gekürt. Deren Marketingspruch: „People make Glasgow.“
Der Humor hat nur einen Haken. Man muss ihn verstehen können. Ausländer stoßen da schnell an ihre Grenzen, selbst wenn sie bis dahin dachten, ganz gut Englisch zu können. Aber hier wird ja auch Schottisch gesprochen. Da muss sogar Bill Bryson kapitulieren: „Hae ya nae hook ma dooky?“ „D’ye dack ma fanny?“ Trotz mehrfachen Nachfragens versteht der Amerikaner kein Wort.
„These guys can cook“
Zum Glück äußert sich der Humor der Glaswegians nicht nur verbal. So sitzt schon seit langem auf dem Kopf des Duke of Wellington, dem ehrwürdigen Reiterstandbild vor der Gallery of Modern Art, ein keckes rot-weißes Verkehrshütchen. Etwas subtiler ist die Ironie im Blythswood Hotel: Die warmen roten Lampen in den Fenstern von Foyer und Restaurant sind ein kleiner Gruß an das einstige Rotlichtviertel am Blythswood Square.
Auch was das Essen betrifft, hat die Stadt sich dramatisch verändert. Wer glaubt, dass die Schotten nur frittierte Marsriegel futtern, ist noch nicht in Glasgow gewesen. Exzellent lässt sich hier speisen, schottisch-modern, kreativ und bodenständig wie in The Gannet.
Natürlich haben Peter McKenna und Ivan Stein diese Küche nicht neu erfunden. Der Erste, der erkannte, was für fantastische Produkte Schottlands weite Natur zu bieten hat und modern damit umzugehen wusste, war Ronnie Clydesdale. 1971 schon eröffnete der alte Linke sein Lokal „The Ubiquitous Chip“, das heute sein Sohn führt. „Die allgegenwärtige Pommes“ ist eine ironische Anspielung an die Lieblingskost der Schotten, die es hier gerade nicht gab.
Der Pionier war lange der Einzige, jetzt interpretieren junge Köche wie McKenna und Stein alte Kost originell neu. Mit ihrem Scotch Egg zum Beispiel, das so traditionsreich und out ist wie das Solei in Berlin. Serviert wird im Gannet ein ganz langsam wachsweich gekochtes Entenei, in eine würzige Blutwurstmasse gehüllt mit knuspriger Panade. Ein weiterer Höhepunkt des Menüs ist das cremige Lemon Posset, die britische Variante der Pannacotta. Wie der „Guardian“ über das vor nicht einmal einem Jahr eröffnete Lokal mit britischem Understatement schwärmte: „These guys can cook.“
Finnieston ist schwer im Kommen
Nicht nur den bekannten Lachs, auch geräucherte Makrele gibt’s hier, Jakobsmuscheln mit Erbsenpürree, Austern, Lamm, Wild, Waldbeeren ... Lachend erzählen die beiden Köche, wie eines Tages – an dem ein Michelin-Kritiker bei ihnen speiste, nur wussten sie das nicht – ein Fischer zur besten Lunchzeit hereingegummistiefelt kam, mit seinem riesigen Fang in der Hand. Ob sie das extra für ihn arrangiert hätten, wollte der Kritiker wissen, als er sich zu erkennen gab. Nö.
Auf dem Abschnitt der langen Argyle Street, an dem das Lokal liegt, reiht sich inzwischen ein Restaurant an die nächste Bar. Finnieston, wie das Viertel heißt, ist schwer im Kommen. Dabei hat die Gegend sich noch immer was Raues bewahrt, ein paar Schritte vom edlen Fischrestaurant entfernt liegen Sozialwohnungsbauten. Zehn Jahre lang hatte das Haus des Gannet leer gestanden. Als die beiden Köche zur ersten Besichtigung kamen, waren die Fenster verrammelt, der Fußboden ein einziges riesiges Loch. Jetzt brummt es in dem lässigen Lokal. (Nichts für Geräuschempfindliche!)
Dass Finnieston sich so rasant entwickelt, liegt auch an der Lage in der Nähe vom Fluss. Am Clyde, in der alten Industriebrache, haben sich nämlich viele der neuen Attraktionen angesiedelt: das Hydro und das Riverside Museum, die schottische BBC-Zentrale und das Science Center. Allerdings: Ihnen fehlt dort noch das entsprechende Umfeld. Inmitten der etwas isolierten Neubauten steht ein gigantischer Kran, der einst Lokomotiven auf die Frachtschiffe hievte – ein Denkmal für die Industrievergangenheit.
Es gibt auch in Glasgow noch Einiges zu tun
Einen Spaziergang am Clyde empfiehlt Rachel Seiffert dem Besucher denn auch, um Höhen und Tiefen der Stadtgeschichte zu erleben. Aber wer Glasgow richtig kennenlernen will, meint die Schriftstellerin, der sollte sich in den Bus setzen und rausfahren zu den Sozialbausiedlungen. Sie selber hat dort in den 90er Jahren als Sozialarbeiterin mit arbeitslosen Jugendlichen gearbeitet, dort spielt auch ihr neuer Roman „The Walk Home“, der für seinen authentischen Glasgow-Sound gelobt wird.
In den 70er Jahren wurden die alten Slums der Stadt abgerissen, die Bewohner in Hochhäuser außerhalb verpflanzt. Doch die Planer hatten nicht zu Ende gedacht: Neue Wohnungen und eigene Bäder reichen nicht zum Glücklichsein. Was fehlte, war die gesamte Infrastruktur: Schulen, Läden, Treffpunkte, Pubs. Die Menschen, viele arbeitslos, fühlten sich abgeschoben. Binnen kürzester Zeit verslumten die Hochhäuser, am Ende blieben vor allem Asylbewerber übrig.
Drei dieser Hochhäuser sollten zum Auftakt der Commonwealth Games als eine Art Feuerwerk der besonderen Art gesprengt werden. Dass das geschmacklos sein könnte, auf die Idee brachten erst die massiven Proteste die Verantwortlichen – sie nahmen wieder Abstand davon.
Im East End, wo ein Großteil der Spiele stattfindet, dem schäbigeren Ende der Stadt, wurde schnell noch ein „Schandfleck“ beseitigt, gegenüber vom Kunstzentrum Trongate 103: Ein ganzer Block leer stehender, verfallender Gebäude wurde abgerissen, damit die Besucher bloß keinen schlechten Eindruck bekommen. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Allen Wundern zum Trotz: Es gibt auch in Glasgow noch Einiges zu tun.