Geschichte: „Ein atemberaubender Lebensweg“
Im November ist Claude Lanzmann zu Gast an der Freien Universität - anlässlich einer Tagung über sein Lebenswerk. 1949 war er Lektor an der neu gegründeten Hochschule.
Mit Claude Lanzmann verbinden die meisten heute noch vor allem die Dokumentation „Shoah“, die 1985, vor genau 30 Jahren, in die Kinos kam. Zwölf Jahre Recherche und Reisen durch viele europäische Länder stecken in diesem zehnstündigen Werk. Es ist der erste Versuch, durch Gespräche mit Zeitzeugen, Opfern wie Tätern, den Mord an den europäischen Juden zu rekonstruieren.
Die Entstehungsgeschichte dieses Films lässt sich bis ins Jahr 1949 zurückverfolgen, als der damals 24-jährige Claude Lanzmann für zwei Semester an der neugegründeten Freien Universität Berlin als Lektor für französische Literatur tätig war. Eine Tagung Ende November an der Freien Universität widmet sich nun – entlang seines Lebenswerks – der geistesgeschichtlichen Bedeutung der Arbeiten Claude Lanzmanns. An seinem 90. Geburtstag, dem 27. November, wird Lanzmann selbst an der Hochschule zu Gast sein, an der er seine erste Stelle als Dozent innehatte.
Susanne Zepp, Professorin für Romanistik an der Freien Universität Berlin, hat die Tagung konzipiert.
Frau Zepp, es war eine besondere historische Konstellation, als Claude Lanzmann 1949 seine Lektorenstelle an der damals neu gegründeten Freien Universität Berlin antrat: Ein 24-jähriger Jude aus Frankreich, der bereits als Schüler im französischen Widerstand aktiv gewesen war, diskutierte mit gleichaltrigen Deutschen, die ihrerseits Kriegserfahrungen – teilweise als Wehrmachtssoldaten – gemacht hatten, und dies in einem Villenvorort des völlig zerbombten Berlins. Wie kann man sich das vorstellen?
Im Archiv der Freien Universität finden sich die Bewerbungsunterlagen Lanzmanns, verschiedene Schriftstücke und natürlich die Vorlesungsverzeichnisse. Doch über die Atmosphäre jener Jahre vermitteln diese Dokumente letztlich wenig. Die genauesten Beschreibungen finden wir in seiner Autobiografie „Der patagonische Hase“, die 2009 erschien. Lanzmann hat die junge Freie Universität als Dozent miterlebt, und er hat gesehen, wie junge Deutsche versuchten, mit den Gegebenheiten umzugehen. Auf Wunsch der Studierenden bot er ein Seminar über Antisemitismus an.
Das war sicher ein in jeder Hinsicht gewagtes Unterfangen so kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs.
Das Beeindruckende ist – und darauf legt Lanzmann in seiner Autobiografie großen Wert – dass die Initiative von den Studierenden ausging. Lanzmann schildert einen Dialog auf Augenhöhe, die Studierenden stellten Fragen, und er berichtete, was ihm und seiner Familie in Krieg und Résistance widerfahren war und was er über den Holocaust damals wusste. Das Seminar sei auch für ihn eine wichtige Erfahrung gewesen, so schreibt er. Im Zentrum des Seminars stand der Text Jean-Paul Sartres „Réflexions sur la question juive“ aus dem Jahr 1945, ein Text, der auch für Lanzmanns weiteres Schaffen ganz wesentlich war.
Er war dann sehr enttäuscht, dass er für dieses Seminar, diesen wichtigen Dialog mit den Studierenden, keine Unterstützung fand, weder von der französischen Kulturallianz, die ihn bezahlte, noch von der Freien Universität. Verboten hat das Seminar schließlich der Kommandant des französischen Sektors. Claude Lanzmann war verärgert und beschloss, sich mit journalistischen Mitteln zu wehren.
Was störte Lanzmann?
Dass politische Fragen in seinem Unterricht keine Rolle spielen sollten, die Tendenz, unliebsame Fragen unter den Teppich kehren zu wollen. Im Text „Die Kinderkrankheiten der Freien Universität“, der in der Berliner Zeitung im sowjetischen Sektor der Stadt erschien, prangert Claude Lanzmann sowohl die unzureichende Ausbildung einiger Lehrender an der Freien Universität an als auch eine ausgebliebene Auseinandersetzung mit den Tätigkeiten mancher Kollegen vor 1945.
Dass Lanzmann den Vorwurf einer „innerhalb der Universität bestehenden Nazibürokratie“ und die Anwürfe gegen den damaligen Rektor Edwin Redslob auch in seiner Autobiografie wiederholte, hat bei deren Erscheinen Kritik ausgelöst.
Der Artikel in der Berliner Zeitung ist ein zorniger Text. Lanzmann waren Fragen diplomatischer Zurückhaltung als junger, ungestümer Mann völlig egal. Eigentlich war ihm die Freie Universität wohlgesonnen und man war dankbar für seine Anwesenheit, wie ein Brief aus der Rektoratsakte im Archiv auch deutlich zum Ausdruck bringt: Lanzmanns Art zu lehren, wird dort als herausragend gelobt; er wird als „Abgesandter des französischen Geistes“ bezeichnet.
„Shoah“ bedeutete auch einen Paradigmenwechsel im Schreiben über den Holocaust
Wie prägend war die kurze Berliner Episode für Lanzmanns Leben und Werk?
In gewisser Weise hat Lanzmann in jenen Jahren die journalistische Form für sich entdeckt, in der er das eigene Erleben, philosophische Reflexion und politischen Anspruch verknüpfen konnte. Durch eine Artikelserie über das geteilte Deutschland, der in einer französischen Zeitung erschien, wurde Jean- Paul Sartre auf ihn aufmerksam, und Lanzmann fing an, für Les Temps modernes zu arbeiten, also für die Zeitschrift, die Sartre gemeinsam mit Simone de Beauvoir herausgab.
Das Faszinierende an Lanzmanns Werk ist zudem, dass es Konstanten in seinem Denken gibt, die uns in unterschiedlichen Lebensphasen immer wieder begegnen; es sind politische und biografische Fragen, die regelmäßig auftauchen. So ist sein erster Film „Pourquoi Israël“ („Warum Israel“) aus dem Jahr 1973 in gewisser Weise auch eine Antwort auf Sartres Text „Réflexions sur la question juive“, über den er mit seinen Studentinnen und Studenten 1949 in Berlin diskutiert hat.
In diesem Film geht es Lanzmann darum, den damals noch jungen Staat Israel in seinen Realitäten so vielfältig wie möglich abzubilden und zu zeigen, warum es diesen Staat geben muss. Er setzte damit der Imagination des Antisemiten, die Sartre schildert, eine jüdische Realität entgegen.
Wie kam es, dass sich der Publizist Lanzmann mit über 40 Jahren dem Medium Film zuwandte?
Lanzmann nahm in den 1960er Jahren sehr genau wahr, wie in der französischen Linken – der er sich stets zugehörig fühlte – der Antizionismus immer schrillere Töne anschlug. Die Entscheidung, dem etwas entgegenzusetzen und das in einer bislang noch nicht dagewesenen Form, erkläre ich mir daraus. Und die Entstehungsgeschichte von „Pourquoi Israël“ aus dem Jahr 1973 ist eng mit der Idee zu „Shoah“ verbunden...
„Shoah“, diese Dokumentation verbinden die meisten mit dem Namen Claude Lanzmann. Wie wirkte der Film in der europäischen Geistesgeschichte nach?
Dass der Film bis heute so fasziniert, liegt daran, dass es Lanzmann gelingt, Menschen und menschliche Geschichten aus der überwältigenden Wucht der Statistik herauszulösen, ohne die geradezu unvorstellbare quantitative Dimension der Tat aus den Augen zu verlieren. Er versucht, das individuelle Erleben dieses Ereignisses zu berücksichtigen, verzichtet jedoch darauf, es in ein Narrativ zu pressen. „Shoah“ bedeutete deshalb auch einen Paradigmenwechsel im Schreiben über den Holocaust.
Was haben Sie sich für die Tagung vorgenommen?
Wir wollen versuchen, einzelne Stufen der Biografie nachzuzeichnen, angefangen von Lanzmanns Zeit als Gymnasiast in Clermont-Ferrand, als er sich der Résistance anschloss, bis hin zu seinem jüngsten Film „Der Letzte der Ungerechten“, der in diesem Jahr in die deutschen Kinos kam. Thema eines Vortrags wird auch die Reise nach Ägypten und Israel sein, die Lanzmann mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir 1967 unternahm.
Es ist ein atemberaubender Lebensweg, der wesentliche Zusammenhänge der europäischen Geschichte – und darüber hinaus – berührt. Ich habe mich deshalb sehr gefreut, dass Claude Lanzmann zugesagt hat, zur Tagung nach Berlin zu kommen – ausgerechnet an seinem Geburtstag und, wie er mir geschrieben hat, „glücklich, wieder einmal an die Freie Universität zu kommen“.
„Le regard du siècle“ – Claude Lanzmann zum 90. Geburtstag. Internationale Tagung an der Freien Universität am 27. und 28. November 2015.
Nina Diezemann
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