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Ob teure „Säuren-Basen-Tees“ aus der Apotheke oder dem Wellness-Regal des Supermarkts gegen „Übersäuerung“ helfen, halten Experten zumindest für fragwürdig. Gegen winterliche Kälte hilft ein heißer Tee aber auf jeden Fall.
© IMAGO

Mythos "Übersäuerung": Echt ätzend

Diverse Mittelchen sollen das „Übersäuern“ des Körpers verhindern. Ernährungsexperten halten nicht viel davon.

„Über die Fußsohlen entgiftet der Körper besonders stark.“ So heißt es in einer Werbung für „Basenstrümpfe“, die dafür gedacht sind, mit einer alkalischen Lösung getränkt zu werden. Die Konsumenten sollen sie über Nacht tragen, um über das „Entgiftungsorgan“ Fuß schädliche Säure aus ihrem Organismus zu leiten.

Die Strümpfe sind sicher ein skurriles Beispiel. Doch „Basenpulver“ und andere Mittel zum Einnehmen sind derzeit ein Renner bei gesundheitsbewussten Menschen. Ist Übersäuerung durch falsche, einseitige Ernährung wirklich ein relevantes Gesundheitsproblem? Sollten wir, auch wenn wir uns ganz gesund fühlen, zur Sicherheit unseren Urin regelmäßig auf seinen pH-Wert überprüfen, „basische“ Diäten einhalten und Nahrungsergänzungsmittel schlucken, um zu einer alkalischeren Stoffwechselbilanz zu kommen?

Ein gesunder Körper kann gut mit Säuren

Fakt ist: Vor allem nach dem Verzehr eiweißreicher tierischer Lebensmittel wie Fleisch, Wurst, Eier, Käse und Fisch entstehen im Stoffwechsel Säuren. Fakt ist aber auch: Der Körper scheidet diesen Säureüberschuss auf verschiedenen Wegen – vor allem über die Nieren, teilweise auch über die Lunge und den Schweiß - wieder aus, wodurch Säuren und Basen wieder ins Gleichgewicht kommen. Zudem enthalten Gemüse und Obst reichlich basisch wirkende Mineralstoffe und Spurenelemente – auch die sauer schmeckende Zitrone. Dadurch wird die im Stoffwechsel anfallende Säure neutralisiert. Auf der Haut ist ein Säuremantel sogar erwünscht, denn die meisten Bakterien und Pilze bevorzugen ein saures Milieu. „Die natürlichen Puffersysteme des Körpers, eine ausgewogene Ernährung mit reichlich Gemüse und Obst, mäßig tierischen Lebensmitteln, viel Trinken sowie Bewegung schützen ausreichend vor Übersäuerung“, so fasste die Verbraucherzentrale Hessen vor einigen Jahren in einer Broschüre den Sachstand zusammen. Besorgte Konsumenten wurden sogar vor dem „Geschäft mit der Übersäuerung“ gewarnt.

„Unser Organismus kann mit Säure gut umgehen“, versichert auch der Ernährungsmediziner und Stoffwechsel-Experte Andreas Pfeiffer von der Charité und vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke (DIfE). Gesunde müssten deshalb keine besonderen Nahrungsergänzungsmittel einnehmen. Noch nicht einmal während einer Fastenkur sei es normalerweise nötig, durch die Einnahme von Mineralstoffen die sogenannten Ketonkörper zu neutralisieren, die infolge der Oxidation von Fettsäuren in der Leber gebildet werden: „Durch das Fasten gelangen zwar Ketonkörper ins Blut, das übersäuert den Körper allerdings nicht, er nutzt sie vielmehr als Brennstoff“, beruhigt Pfeiffer.

Ein Konzept aus dem letzten Jahrhundert

Bei einigen Krankheiten sieht das anders aus: Zu einer akuten Übersäuerung, einer Azidose, kann es zum Beispiel kommen, wenn die Niere nicht richtig arbeitet. Und Kinder mit einer Epilepsie, die zur Vorbeugung von Krampfanfällen langfristig eine säuernde Diät bekommen, tragen ein höheres Risiko, Harn- oder Nierensteine zu entwickeln. „Sie sollten alkalisierende Mineralstoff-Präparate einnehmen“, sagt der Ernährungswissenschaftler Thomas Remer von der Universität Bonn.

Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts herausgefunden wurde, dass Mineralstoffe, die aus Lebensmitteln stammen, im Körper den pH-Wert vorübergehend in die saure oder die alkalische Richtung verschieben können, dachten einige Verfechter alternativer Ernährungsformen deshalb gleich an eine Gefahr auch für Gesunde. „Die Säure ist das Zellgift schlechthin“, postulierte damals der österreichische Arzt Franz Xaver Mayr. Sein Schweizer Kollege Maximilian Bircher-Benner stieß 1931 ins gleiche Horn: Er warnte vor der „Säurenot“, in die der Körper durch eine Überlastung mit Zerfallsprodukten von Eiweiß aus der Nahrung kommen könne: „Im ganzen Systeme bereitet sich unter diesen Eiweißfaktoren der Sumpfboden vor, auf welchem unheilvolle chronische Krankheiten zu gedeihen vermögen, Krankheiten wie das Rheuma, die Arteriosklerose, die Gicht, die Zuckerkrankheit, die multiple Sklerose.“ Im Verein mit anderen Faktoren wirkten sie „im gemeinsamen Konzert mit, das da bestrebt ist, in heimtückischer Weise den wundervollen Tempel des Lebens zu zerstören.“ Nicht nur die Sprache, in der die Warnungen vorgebracht werden, mutet heute seltsam an. „Das sind Konzepte aus der vor-physiologischen Ära, als über den Stoffwechsel noch wenig bekannt war“, sagt Andreas Pfeiffer.

Dicke scheiden Säure schlechter aus

Auch Ernährungswissenschaftler Remer ist gegenüber dem Konzept der krank machenden „chronischen Übersäuerung“ skeptisch. „Die Theorien sind 100 Jahre alt, in der Zwischenzeit gab es große wissenschaftliche Fortschritte, viele alternative oder esoterische Ernährungskonzepte lassen diese Erkenntnisse allerdings unberücksichtigt.“ , hat Remer aber Hinweise darauf gefunden, dass es Unter gesunden Heranwachsenden gibt es aber Untergruppen, die langfristig etwas davon haben könnten, wenn sie ihre „potenzielle Säurelast“ reduzieren. Hinweise darauf hat Remer im Rahmen der „Donald“-Studie (für: DOrtmund Nutritional and Anthropometric Longitudinally Designed) gefunden. Dafür wurden seit fast 30 Jahren die Wechselwirkungen von Ernährung, Stoffwechsel, Wachstum und Entwicklung bei gesunden Heranwachsenden von der Geburt bis ins Erwachsenenalter verfolgt.

Er sagt es in aller Vorsicht, denn die Arbeiten hierzu sind noch längst nicht abgeschlossen. „Doch es gibt deutliche Hinweise, dass zum Beispiel dickere Kinder Säure oft schlechter über die Nieren ausscheiden. Besonders bei höherer Eiweißzufuhr würden sie davon profitieren, auch den alkalisierend wirkenden Obst- und Gemüseverzehr zu steigern.“ Heranwachsende, die viel Gemüse und Obst essen, haben generell eine besonders gute Knochenqualität. Das konnten die Forscher mit bildgebenden Untersuchungen am Unterarm und Analysen von Biomarkern in mehrfach gesammeltem 24-Stunden-Urin zeigen. In kurzfristig gesammelten einzelnen Urinportionen den pH-Wert zu testen, hält Remer dagegen nicht für sinnvoll. Neben den Knochen interessieren Remer und seine Arbeitsgruppe jetzt auch mögliche positive Wirkungen einer alkalireichen Ernährung auf das körpereigene Stresssystem und den Blutdruck.

Alkalisch wirkende Nahrungsergänzung: Keine Wirkung

Eine weitergehende Frage ist, ob gesunde Menschen auch von alkalisch wirkenden Mineralsalzen als Nahrungsergänzung profitieren. In der Forschung wurde das bisher vorrangig anhand der Knochengesundheit untersucht. Helen Macdonald von der Universität Aberdeen ist der Frage in einer Studie mit Frauen in der frühen Postmenopause nachgegangen, deren Ergebnisse 2008 im „American Journal of Clinical Nutrition“ erschienen sind. Sie hat dafür 276 Frauen zwischen 55 und 65 Jahren nach dem Zufallsprinzip in vier Gruppen eingeteilt: Die erste Gruppe bekam Kapseln mit hoch dosiertem Kaliumcitrat, ein Kaliumsalz der Citronensäure, das auch bei Patienten mit Nierensteinen eingesetzt wird. Die zweite Gruppe nahm eine niedrigere Dosierung davon, die dritte hingegen sollte jeden Tag 300 Gramm Obst und Gemüse zusätzlich auf den Speiseplan setzen. Die vierte Gruppe sollte einfach weiter wie bisher essen. Zwei Jahre später zeigten sich in der Knochendichte zwischen den Gruppen keine nennenswerten Unterschiede. Bei gesunden Frauen, die sich ohnehin obst- und gemüsereich ernähren, haben die Supplemente also keinen Einfluss auf den Knochenstoffwechsel.

Macdonald vermutet, dass es nicht die alkalisch wirkenden Mineralsalze, sondern andere Inhaltsstoffe der Pflanze und deren Wechselwirkungen sind, die den Knochen gut tun. Tierversuche des Pathophysiologen Roman Muhlbauer von der Universität Bern weisen in diese Richtung: So wirkte sich Futter mit viel Gemüse und vielen Kräutern günstig auf den Knochenstoffwechsel von Ratten aus. Ein Zusammenhang mit dem Säure-Basen-Haushalt fand sich jedoch nicht. Allerdings unterscheidet sich das Verdauungssystem der Ratte von dem des Menschen.

Basenstrümpfe machen Experten sauer

Ernährungswissenschaftler Remer hält auf jeden Fall langfristige Untersuchungen für nötig, in denen Menschen, die sich bisher sehr „säurelastig“ ernährt haben, ihr Essverhalten umstellen. Erst wenn Untergruppen identifiziert seien, die darauf besonders positiv ansprechen, könne man Präparate einsetzen, um zu sehen, ob es wirklich die „Basen“ sind, die sich hier nützlich machen. In den Augen von Ernährungsmediziner Pfeiffer ist das allerdings keine vordringliche Forschungsfrage.

Die Empfehlung, viel Gemüse und Obst zu essen, halten beide jedoch auf jeden Fall für sinnvoll – aus vielerlei Gründen. Überhaupt nicht einleuchtend finden beide Wissenschaftler aber die Empfehlung, mit in Lauge getränkten Strümpfen die „Entgiftung“ anzukurbeln und den Stoffwechsel zu „entsäuern“. Kommerzielle Angebote wie dieses könnten einen eher sauer machen.

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