Schaltsekunde: Diese Nacht hat eine Sekunde mehr
Um kurz vor zwei werden die Uhren kurz angehalten, um die Weltzeit und die astronomische Zeit in Einklang zu bringen. Doch es gibt Proteste – und Angst vor technischen Pannen.
Heute Nacht ist schon wieder Zeitumstellung. Dieses Mal aber nur für einen Augenblick: Am 1. Juli um 01:59:59 Uhr wird das Jahr 2015 um eine Sekunde verlängert. Solche Schaltsekunden gleichen die minimale Abweichung aus, die dadurch entsteht, dass die Erde für eine Umdrehung ein kleines bisschen länger braucht als die exakten 24 Stunden Atomuhrzeit. Ohne Schaltsekunde würden Weltzeit und astronomische Zeit immer weiter auseinanderklaffen – und irgendwann in ferner Zukunft die Sonne erst am Mittag aufgehen.
Anfang des Jahres hatte die Differenz bei 0,5 Sekunden gelegen. „Am 1. Juni betrug der Unterschied 0,65 Sekunden“, sagt Andreas Bauch von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig. International vereinbart ist, dass Weltzeit UTC und Sonnenzeit UT1 nie mehr als 0,9 Sekunden voneinander abweichen sollen. Wann zum Ausgleich eine Schaltsekunde eingefügt wird, entscheidet der Erdrotationsdienst IERS. Nun ist es wieder so weit, zum 26. Mal seit Einführung der Schaltsekunde im Jahr 1972.
2012 fiel das Buchungssystem einer Airline aus
Bei der Umstellung könnte es durchaus Probleme geben. Während die meisten Uhren den Sprung bewältigen werden, kommt manche Software mit einer zweiten 60. Sekunde nicht klar. Bei der Schaltsekunde 2012 wurden mehrere Websites lahmgelegt, das Buchungssystem der australischen Fluggesellschaft Qantas fiel zeitweise aus.
„Es ist erstaunlich, was eine kleine Sekunde so anrichten kann“, sagt Bauch. Je wichtiger integrierte Zeitangaben für technische Systeme sind, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit, dass doch einmal an einer entscheidenden Stelle die Anpassung vergessen wird oder nicht korrekt erfolgt. Problematische Kettenreaktionen seien zum Beispiel im Stromnetz denkbar, sagt Bauch. Bei der Berechnung des Stromflusses werde mit Mikrosekunden Zeitauflösung gearbeitet, ebenso bei der Bestimmung der Netzwerkbelastung. Werde ein Wert wegen der Schaltsekunde falsch berechnet und als Problem angezeigt, könne die Abschaltung der Leitung folgen. Auch bei der Flugsicherung oder im Geldhandel werde mit Millisekunden Zeitauflösung gearbeitet, ebenso bei der Navigation über Satelliten, sagt der PTB-Experte.
Länder streiten über die Schaltsekunde
Für Privatfirmen sind die Schaltsekunden vor allem mit Mehrkosten für die Umstellung von Hand verbunden. Daher verwundert es kaum, dass es inzwischen viel Widerstand gibt gegen das 1972 eingeführte Zeitsystem. Erstmals im Jahr 2001 wurde von den USA die Abschaffung der Schaltsekunden als Arbeitsthema vorgeschlagen. „Es ist nicht normal, dass eine so konkrete Frage 14 Jahre auf der Agenda steht, aber die Parteien waren und sind verbissen“, sagt Bauch.
Bei der Weltfunkkonferenz der Internationalen Fernmeldeunion im November werden die Kritiker erneut einen Versuch starten. Vor allem die USA und Frankreich befürworteten eine Abschaffung der Schaltsekunde, sagt Bauch. Zu den Ländern, die die Schaltsekunde beibehalten wollen, zählen Großbritannien, Russland und Kanada.
Alternative: eine Schaltminute alle 100 Jahre
Hauptargument für eine Abschaffung der Schaltsekunden sei, dass Fehlerrisiken und Mehraufwand wegfielen, sagt Wolfgang Dick vom IERS-Zentralbüro in Frankfurt am Main. „Allerdings ist auch klar: Irgendwann muss man korrigieren.“ Denkbar sei das Einschieben einer Schaltminute alle 100 Jahre oder einer Schaltstunde nach entsprechend längerer Frist. „Allerdings wüsste nach so langer Zeit niemand mehr, wo überall es ein Problem geben könnte und Anpassungen in Systemen nötig sind“, glaubt Dick.
Ein eher philosophisches Argument in der Debatte lautet: Die Abschaffung der Schaltsekunden hieße, dass das Leben zum ersten Mal in der gesamten Menschheitsgeschichte von der Sonnenzeit abgekoppelt würde. Im Moment sind die Lager von Gegnern und Befürwortern etwa gleich groß. Für eine Änderung des Weltzeitsystems müssten sich aber alle einig sein. (dpa)