Bilanz der Amtszeit von Anja Karliczek: Die Wissenschaft will einen Neuanfang nach der Wahl
Die Wissenschaft ist unzufrieden mit Ministerin Karliczek und der Forschungspolitik – und hofft auf einen Neubeginn nach der Wahl. Wichtige Großthemen liegen brach.
Nie war die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Wissenschaft so groß wie in der Coronakrise – mantraartig wird das seit Beginn der Pandemie landauf, landab wiederholt. Praktisch alle Ministerpräsident*innen haben ihre eigenen wissenschaftlichen Berater*innen, die Bundeskanzlerin sowieso. Einige Forschende sind regelrecht zu Stars geworden in der Pandemie, allen voran Charité-Chefvirologe Christian Drosten.
Doch wer erwartet, das würde sich auch auf den Wahlkampf auswirken, täuscht sich: Wissenschaft spielt so gut wie gar keine Rolle. Auch nicht als Großthema, wie die Zukunftsfragen der Republik wissenschaftsgeleitet angegangen werden könnten. Dabei gäbe es aus Sicht der Wissenschaft viel zu besprechen. Denn wo immer man sich umhört: Jenseits der verbalen Wertschätzung fühlen sich viele Forschende von der Bundesregierung nicht optimal vertreten.
Die Überraschung über Karliczek war groß
Das liegt auch an Bundesforschungsministerin Anja Karliczek (CDU), aber nicht nur. Die Überraschung war groß, als Karliczek 2018 Bildungs- und Forschungsministerin wurde, auch bei Karliczek selbst. Als Fachpolitikerin für den Bereich war sie bis dahin nicht in Erscheinung getreten; Als gelernte Hotelfachfrau, lediglich mit einem Fernstudium in BWL, erschien sie auch sonst als wissenschaftsfern. Einiges der Skepsis, die Karliczek entgegenschlug, mag denn auch zunächst mehr über den akademischen Dünkel ihrer Kritiker*innen als über sie selbst ausgesagt haben.
Tatsächlich zeigt nicht zuletzt das Beispiel des Berliner Regierenden Bürgermeisters und Wissenschaftssenators Michael Müller (SPD) eindrücklich, dass eine klassische universitäre Ausbildung keineswegs Voraussetzung ist, um als Wissenschaftspolitiker zu reüssieren. Müller, gelernter Bürokaufmann und später Drucker, hat zahlreiche Fans an den Hochschulen und Instituten der Stadt – und er hatte mit Steffen Krach einen sehr guten Wissenschaftsstaatssekretär an seiner Seite. Mit Karliczek und dem, was aus ihrem Ministerium in dieser Legislaturperiode gekommen ist, sind in der Wissenschaft dagegen bis heute viele nicht warm geworden.
Dabei kann Karliczek durchaus auf einige Erfolge verweisen. Allen voran gilt das für die drei großen Wissenschaftspakte, die dauerhaft verlängert wurden. Langfristig bringt das etliche Milliarden Euro ins Wissenschaftssystem, das bedeutet Planungssicherheit für alle Beteiligten. Insbesondere dass der Hochschulpakt für Studienplätze (jetzt „Zukunftspakt“) auf Dauer gestellt wurde, ist ein Meilenstein: Der Bund engagiert sich damit auf viele Jahre finanziell fest für Studium und Lehre.
In der Pandemie stellte das BMBF schnell hohe Beträge für die Impfstoffforschung und -entwicklung zur Verfügung. Überhaupt erhält das BMBF seit Jahren kontinuierlich mehr Geld.
"Nicht-Gesprächsfähigkeit"
Dennoch: Wer sich in der Wissenschaft umhört, hört wenig zufriedene Stimmen. Eine „Nicht-Gesprächsfähigkeit“ attestiert ein hochrangiger Wissenschaftsfunktionär, der nicht genannt werden will, dem Ministerium – womit ausdrücklich auch die zweite Reihe der Leitungsebene gemeint sei. Die Ministerin habe sich mit vielen Fachfremden umgeben, in der Wissenschaft gut vernetzte Mitarbeitende seien dagegen gegangen. „Um in den Diskurs mit der Wissenschaft treten, müsste man eine Ahnung haben, wie die überhaupt funktioniert“, lästert der Funktionär über das Ministerium. Viele Themen würden unnötig verschleppt. Bezeichnend dazu ist vielleicht, dass die Ministerin in ihrer eigenen Leistungsbilanz der Legislaturperiode auf ihrer persönlichen Webseite ebenfalls nur wenig Worte für die Wissenschaft findet.
[Wenn Sie die wichtigsten News aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Unlängst kritisierte auch Peter-André Alt, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, in einem Tagesspiegel-Beitrag die „missionsorientierte Förderpolitik“, die sich zu stark auf den Anwendungsbezug orientiere. Sabine Kunst, Präsidentin der Humboldt-Universität, sagt im Gespräch mit dem Tagesspiegel: „Aus dem BMBF hätte mehr kommen können: Nicht alles, was gut gemeint ist, ist gut gemacht.“ Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg, hält sogar die Themen Hochschulpakt und Exzellenz für „Petitessen verglichen mit dem, was uns bevorsteht“: Es sei versäumt worden, das Bildungs- und Wissenschaftswesen „resilient und resistent“ zu machen für die großen Krisen unserer Zeit.
Themen, die angepackt werden müssen
Inhaltlich kristallisieren sich mehrere Bereiche heraus, die die scientific community in der auslaufenden Legislaturperiode für politisch unterbelichtet hält – und die eine künftige Bundesregierung dringend angehen müsste.
Zukunftsthemen: Digitalisierung und Dateninfrastrukturen? Klimaneutraler Campus? „Hier muss dringend investiert werden. Das erwarten wir vom Bund“, sagt Georg Krausch, Präsident der Universität Mainz und Vorstandsvorsitzender der German U15, einem Zusammenschluss von 15 großen Volluniversitäten. Noch grundsätzlicher äußert sich Lenzen: „Bildungspolitik ist so gut, wie sie in der Lage ist, antizipierbare gesellschaftliche Herausforderungen außerhalb des Bildungswesens national wie global aufzunehmen und zum Bestandteil ihrer Agenda zu machen.“ Politisch sei aber nie antizipiert, sondern nur reagiert worden.
Förderwirrwarr: Eine „Unübersichtlichkeit der Förderinitiativen, deren Vielfalt kaum noch jemand überschaut“, kritisierte Alt in seinem Tagesspiegel-Beitrag. Er bezog sich dabei auf jene anwendungsorientierte Forschung, auf der Karliczeks Fokus lag. Ebenso denkt HU-Präsidentin Sabine Kunst, die von einem „Gemischtwarenladen“ spricht. Insbesondere die neue Agentur für Sprunginnovationen, ein Flaggschiff der Koalition, stehe unverbunden zu anderen Maßnahmen. Georg Krausch fordert vom BMBF insgesamt eine Rückbesinnung auf die Hochschulen und die Grundlagenforschung. Gerade die Pandemie habe gezeigt, welch zentrale Rolle sie für die Forschung in Deutschland spielen. Bestes Beispiel seien dafür die Impfstoffentwicklungen von Biontech und Curevac, die eng mit den Universitäten in Mainz und Tübingen verknüpft sind.
Stichwort Biontech: Für Thomas Sommer, wissenschaftlicher Vorstand des MDC, reichen die bisherigen Instrumente zur Förderung von Ausgründung von Unternehmen aus wissenschaftlichen Einrichtungen eben bei weitem nicht aus. „Es braucht neue Anreize, um vor allem mehr Wagniskapital für solche Unternehmungen anzulocken.“
Weiterentwicklung der Exzellenz: Nach der Exzellenzkür ist vor dem Exzellenzcheck. 2026 steht die Evaluation der 2018/18 im Bund-Länder-Wettbewerb siegreichen Unis und Cluster an – und die Frage, wie viele neue Vorhaben dazukommen und wie viel zusätzliches Geld dafür zur Verfügung steht. Eine politische Debatte darüber, wie genau der Wettbewerb weiter geht, ist eigentlich überfällig. Krausch fordert, an der Struktur nicht zu rütteln, dafür aber deutlich mehr Cluster auskömmlich zu finanzieren: „Wenn die Erfolgschancen zu gering sind, wird der Wettbewerb zerstört.“
91b: Theoretisch kann der Bund auch in die Finanzierung einzelner Hochschulen einsteigen. Dafür sorgte eine Lockerung des Kooperationsverbots im Grundgesetz beim Artikel 91b – und zwar vor sechs Jahren. Lange wurde das gefordert, doch genutzt wurde diese Regelung seitdem selten. Eine Ausnahme: Die dauerhafte Finanzierung des Berlin Institute of Health und damit der Charité durch den Bund. Gut für Berlin, aber wo bleiben andere solcher Beispiele? Diese „ganz große Chance“ müsse endlich genutzt werden, sagt Kunst. Krausch fordert „Transparenz und einen fairen Wettbewerb“ bei künftigen Vorhaben.
Studierende/wissenschaftlicher Nachwuchs: Ein Koalitionsziel, das in der Legislaturperiode krachend verfehlt wurde, ist die Weiterentwicklung des Bafögs. Zum 50. Geburtstag befindet es sich in einem Siechtum, immer weniger Studierende können die Studienförderung in Anspruch nehmen. Dass sich Karliczek in der Pandemie einer Bafög-Öffnung verweigerte und stattdessen auf eine insuffiziente Nothilfe für Studierende beharrte, haben ihr viele übelgenommen.
Auch der Unmut bei Forschenden unterhalb der Professur ist wegen der prekären Beschäftigungsverhältnisse groß, Stichwort #IchBinHanna. Beides Themen, die die kommende Bundesregierung dringend wird in Angriff nehmen müssen.
Wo sind die Leitideen für das Wissenschaftssystem?
Wo sind insgesamt die Leitideen für das Wissenschaftssystem, wo will die Politik mit der Wissenschaft eigentlich hin? Genau diese große Diskussion müsse eigentlich geführt werden, sagt HU-Präsidentin Kunst. Sie würde nicht sehen, dass eine Person oder eine Einrichtung im politischen Raum diese Debatte anstoßen oder gar vorantreiben würde.
Karliczek selbst kann sich vier weitere Jahre als Ministerin vorstellen. Dass es tatsächlich dazu kommt, ist aber doch eher unwahrscheinlich. Was nicht nur daran liegt, dass die CDU dafür überhaupt erst einmal in die Regierung kommen müsste.