Garton Ash über Proteste in der Türkei: "Die Welt braucht freie Rede"
Der britische Historiker Timothy Garton Ash hofft auf Staatspräsident Gül als Nachfolger des Ministerpräsidenten Erdogan. Gül könnte das „türkische Modell“ fortsetzen - das "friedliche Zusammenspiel von Säkularismus, Islam und Demokratie“.
Herr Garton Ash, haben Sie schon ein Ticket nach Istanbul gebucht, wo im Moment europäische Geschichte gemacht wird?
Ein Ticket habe ich noch nicht. Aber das, was wir dort beobachten, erinnert uns tatsächlich an den Wenzelsplatz in Prag 1989 oder den Tahrir in Kairo 2011. Dabei muss man allerdings vorsichtig sein mit Vergleichen. Erdogan ist nicht Mubarak, er ist kein Diktator, sondern demokratisch legitimiert.
Was wird der Taksim-Platz für das übrige Europa bedeuten?
Die Ziele der Protestierenden sollten wir nicht falsch einschätzen. Ihnen geht es nicht, wie damals den Osteuropäern, um Rückkehr nach Europa, sondern um Veränderungen in der Türkei, um mehr Bürgerrechte.
Sollte Brüssel jetzt wegen des harten Vorgehens der Erdogan-Regierung die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aussetzen?
Auf keinen Fall! Es kommt jetzt erst recht darauf an, im Dialog zu bleiben. Der Ruf der Protestler nach Erdogans Rücktritt klingt wie das, was die Studenten 1968 zu De Gaulle sagten: „Dix ans, ça sufit!“ Zehn Jahre sind genug – das scheint eine eiserne Regel der Geschichte in Demokratien zu sein, die Gewöhnung an die Macht führt offenbar zu Hybris.
Die harten Repressionen, nicht nur gegen die Demonstranten, werfen jedenfalls ein problematisches Licht auf Erdogan.
Mit seiner neo-osmanischen, neo-sultanischen Haltung hat sich Erdogan in der Tat selber beschädigt. Seinen Ruf in der Welt wird er kaum wiederherstellen können. Staatspräsident Abdullah Gül als gemäßigter Nachfolger böte eine gute Möglichkeit, das türkische Modell fortzusetzen, und darauf kommt es an. Als friedliches Zusammenspiel von Säkularismus, Islam und Demokratie hat dieses türkische Modell eine vorbildhafte Funktion für die arabische Welt, für alle islamisch geprägten Staaten.
Europas Krise ist auch ohne die türkischen Unruhen überall spürbar. In Italien fordert der Philosoph Giorgio Agamben mehr europäisches Gewicht für die Länder des Südens. Jürgen Habermas sorgt sich um eine EU, die monetär schon homogenisiert, aber politisch noch fragmentiert ist.
Agambens idealisiertes „Südeuropa“ ist ebenso eine Konstruktion wie „Osteuropa“. Mailand hat mehr gemein mit Genf als mit Athen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass ein liberales, protestantisches Nordeuropa oder ein katholisches, kulturelles Südeuropa in Reinform existieren. Was Habermas erklärt, trifft viel eher die Kernfrage: Wir müssen in Europa von der Währungsunion zu einer politischen und fiskalischen Union gelangen.
Wie kann das geschehen?
Dreierlei braucht Europa dringend: Wirtschaft und Wachstum, um die jungen Leute, vor allem im Süden, in Arbeit zubringen, eine Harmonisierung der Institutionen und nicht zuletzt einen gemeinsamen Geist, ein gemeinsames Gefühl für Europa.
Es fehlt an vielem, was dieses Europa-Gefühl hervorrufen kann – gemeinsame Medien, gemeinsame Schulbücher, eine als gemeinsames Forum empfundene Öffentlichkeit.
Ja, transnationale Medien gibt es nur bei kleinen intellektuellen Eliten, die etwa „The Economist“ lesen. Vor einer europaweiten Homogenisierung von Medien oder auch Schulbüchern würde ich jedoch warnen, das wäre kaum zu vermitteln. Schulbücher der einzelnen Länder sollten allerdings offen sein für die Geschichten der anderen.
"A soul for Europe": Europa braucht mehr Gefühl
Das würde dazu beitragen, „A Soul for Europe“ zu schaffen, wie sich eine Initiative nennt, für die Sie sich engagieren?
In jedem Land der Union müssen wir unsere eigenen Europa-Argumente finden und jeweils individuelle Narrative für eine europäische Identität entwickeln. Diese Argumente für Europa sollten einander ergänzen, sie sollten komplementär sein, doch keineswegs identisch.
Es brodelt in der Europäischen Union, die Sie einmal als „magnetisches Projekt“ des Friedens nach zwei Weltkriegen bezeichnet haben. Ressentiments reicher „Geberländer“ gegen arme Nehmerländer wachsen, und ein deutscher Soziologe bezeichnete Angela Merkel unlängst als „Merkiavelli“.
Das ist irreführende Polemik. Angela Merkel ist eine kluge, begabte Politikerin, und inzwischen bekennt sie sich offen zum Euro und zu Europa. Auch Peer Steinbrück hat ganz recht, wenn er darauf hinweist, dass wir uns in der EU längst in einer Haftungsunion der wechselseitigen Abhängigkeiten befinden. In Deutschland wird aber noch zu wenig vermittelt, dass die Wirtschaft gerade hier enorm vom Euro profitiert. Das Geld kann übrigens gerne in den Taschen der Deutschen bleiben, um die Binnennachfrage in der EU zu stärken. Und trotz der allgegenwärtigen Krise muss man anerkennen, wie weit der europäische Konsens überall gediehen ist.
Die Jugend liebt ihr „Easy-Jet Europa“, wie Sie es nennen. Doch jetzt sehen sich viele gezwungen, auf Arbeitssuche ihr Land zu verlassen, sie fühlen sich von Europa betrogen. Wo ist da der Konsens?
Sicher, für einen akademisch gebildeten Spanier ist es nicht schön, dass er nach London oder Berlin kommen muss, um als Kellner zu arbeiten. Aber es ist besser, als arbeitslos zu sein. Und auch diejenigen, die skeptisch sind gegenüber der heutigen Europäischen Union, wollen eine europäische Lebensweise beibehalten. Nehmen Sie Spanien: Trotz der hohen Arbeitslosigkeit gibt es bisher weder eine extreme Radikalisierung nach rechts noch nach links. Eine starke, europäische Mitte hat sich entwickelt. Auch dafür, dass wir angesichts des wachsenden Wirtschaftspotenzials von China, Indien oder Brasilien ein starkes Europa brauchen, findet sich ein ausgeprägtes Bewusstsein.
Ungarn käme heute nicht mehr in die EU
Ungarn schert aus dem europäischen Wertekonsens aus. Was sollen wir von einer EU halten, die weitgehend zusieht?
Ungarn mit seinem Abbau der Rechtsstaatlichkeit würde heute nicht in die Union hineingelassen, Italien zu Zeiten Berlusconis übrigens ebenso wenig. Angesichts solcher politischer Regression muss die EU eine deutlichere Sprache finden. Dass Viktor Orban mit seiner „Fidesz“ als Teil der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament gleichberechtigt neben bürgerlichen Parteien wie der CDU oder Frankreichs UMP auftreten kann, ist bedenklich.
Ansonsten sind Sie doch ein großer Verfechter der freien Meinung, etwa mit Ihrem Projekt Free Speech Debate?
Dabei geht es uns darum, universelle Regeln für den freien Meinungsaustausch im Internetzeitalter aufzustellen. Auf unserer Homepage freespeechdebate.com sorgen unsere wunderbaren Studierenden in Oxford dafür, dass die Debatte über freie Meinung in dreizehn Sprachen geführt werden kann. Jeder kann teilnehmen, ob in Indien, Burma, Thailand, China oder Warschau.
Geht es Ihnen um ein neues internationales Recht für die „neue Weltunordnung“?
Wir leben nicht länger in einer bipolaren, hegemonial dominierten Epoche, und das betrifft nicht nur die Welt der Staaten, sondern auch die der Konzerne – denken Sie an Facebook, Google, Twitter. Dieser Zustand erfordert nicht ein neues Völkerrecht, sondern neue Denk- und Redeweisen.
Wie könnten die aussehen?
Bei Debatten um Konfliktstoffe reicht es nicht aus, auf unsere europäischen Wertvorstellungen zu pochen, die aus der Aufklärung kommen. Institutionen wie der Internationale Währungsfonds können nicht länger einfach verkünden: „Wir haben für euch das Rezept, ihr braucht die liberale Demokratie!“ Das wird als Oktroi des Westens aufgefasst und erzeugt Abwehr. Im Dialog auf Augenhöhe entsteht dagegen eine neue Form der Auseinandersetzung, der es mehr um das Vermitteln von Prinzipien und Werten geht.
Gilt das auch für die Diskussion mit den Muslimen in Europa?
Da stehen einander meistens zwei polare Positionen gegenüber. Von den multikulturellen Relativisten ist in etwa das zu hören, was ein britischer Philosoph einmal auf die lakonische Formel brachte: Der Liberalismus den Liberalen, der Kannibalismus den Kannibalen. Auf der anderen Seite finden sich die Kompromisslosen, die Assimilation, Anpassung um jeden Preis fordern. Doch die Freiheit der anderen, die Aufklärung und eine offene Gesellschaft lassen sich miteinander verbinden. Das ist auch Gegenstand des neuen Buches, an dem ich arbeite.
Was schlagen Sie konkret vor?
Jeder, der in unseren Ländern leben will, muss sich an die Grundregeln etwa der Gewaltfreiheit und des einheitlichen Rechtssystems halten. Dass eine Frau nicht geschlagen werden darf, steht zum Beispiel außer Frage. Ob sie ihr Haar offen trägt oder mit einem Tuch bedeckt, sollte allein ihre Sache sein. Das muss insgesamt für die Privatsphäre und für den Glauben gelten.
Schulen sind die Schlüsselstellen für Integration
Wie sehen Sie die Rolle der Bildung bei der Integration?
Schulen sind die Schlüsselstellen der Integration. Statt bei den Schulen zu sparen, sollten ihnen die Regierungen doppelt so viel Geld wie bisher geben: Für exzellenten Unterricht in Geschichte, in Gemeinschaftskunde und in Sprachen.
Interessieren sich Ihre Studierenden in Oxford für Europa?
Das Europa, das für die vorige Generation Ziel ihrer politischen Sehnsucht war, ist für diese Generation selbstverständlich. Unsere Studenten sind gut, sie sind idealistisch und neugierig – aber vor allem fasziniert sie das Globale, sie interessieren sich für China, Indien, globale Ökologie. Mit ihren Notebooks, Laptops, Smartphones sind sie weltweit vernetzt.
Beobachten Sie dabei das „Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom“? Und erlauben Sie diese Geräte in Ihren Vorlesungen?
(lacht) Ich gestatte das alles! Solange die Vorlesungen spannend genug sind, kommt keiner auf den Gedanken, zwischendurch zu twittern.
Sie twittern selber auch.
Aber sehr selektiv! Alle paar Tage weise ich auf einen Aufsatz oder Ähnliches hin. Obwohl ich kein Kulturpessimist bin, mache ich mir allerdings schon Sorgen um die Fragmentierung der öffentlichen Sphäre, den Verlust der Agora durch die unzähligen Kanäle und Plattformen. Umso wichtiger ist die Erhaltung der öffentlich-rechtlichen Sender, wie die BBC oder ARD und ZDF es sind.
Und die Zeitungen?
Auch für die Zeitungen müsste etwas getan werden. Sie sind ein öffentliches Gut, das von privaten Unternehmen hergestellt wird, und das funktioniert in dieser Form bald nicht mehr. – Aber dieses Interview wird hoffentlich noch gedruckt ...
Das Gespräch führten Amory Burchard und Caroline Fetscher.