Träume: Die Wächter des Schlafs
Sind es tatsächlich Botschaften aus dem Unterbewusstsein - oder nur willkürliche Nervensignale aus dem Hirnstamm? Mehr als 100 Jahre nach Sigmund Freuds „Traumdeutung“ beginnen Forscher zu verstehen, was es mit Träumen auf sich hat.
Woher kommen Träume? fragte die Zürcher Psychologin Inge Strauch Kinder im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren. „Sie passieren im Kopf“, gaben die meisten zur Antwort. Und warum? hakte die Forscherin nach. Schweigen. „Wenn ich mir etwas ganz stark wünsche, dann träume ich davon“, sagte ein Junge. „Wenn ich mich über meinen Bruder geärgert habe“, antwortete ein Mädchen, „dann träume ich nachts davon – und danach ist wieder alles gut.“
Inge Strauch, emeritierte Psychologieprofessorin der Universität Zürich, lächelt. In ihrer Karriere hat sie tausende Träume von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen untersucht. Sie weiß, dass Kinder oft von Tieren und Fabelwesen träumen, und nur vergleichsweise selten vom Streit mit Geschwistern. Strauch weiß aber auch: Das Gedankengut von Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, ist so breit verankert, dass selbst Kinder es verinnerlichten.
Freud behauptet nicht nur, dass Träume an das reale Leben anknüpfen und in ihnen Konflikte verarbeitet werden. Für ihn sind sie der „Königsweg zum Unbewussten“. Wenn wir träumen, so schreibt er, werden, oft symbolisch verschlüsselt, auch unsere geheimsten Wünsche und Aggressionen sichtbar.
Neurowissenschaftler hingegen, die mithilfe von Hightech-Geräten beobachten, was beim Träumen im Gehirn passiert, zweifeln das an. Manche von ihnen halten Träume schlicht für eine Art Nervengewitter im Kopf. Und nun gibt ausgerechnet eine von Psychologen verfasste neue Studie den Traumskeptikern Aufwind. „Was jemand träumt“, sagt die Bonner Psychologin Ursula Voss, die die Untersuchung geleitet hat, „verrät erstaunlich wenig über ihn.“ Wird das nächtliche Kino im Kopf also überschätzt?
Schon zur Zeit der Antike hielten die Menschen Träume für kostbar. Die alten Griechen glaubten, die Söhne des Schlafgottes Hypnos würden ihnen des Nachts wichtige Botschaften zuraunen. Und als der junge römische Staatsmann Gaius Julius Caesar im Jahr 68 vor Christus träumte, er habe mit seiner Mutter geschlafen, beruhigten ihn Traumdeuter: Gemeint sei die Erde, sagten sie, er werde die Welt erobern.
Astrologen und Esoteriker glauben bis heute, dass sich aus Träumen die Zukunft vorhersagen lasse. Der starke Mann der modernen Traum-Interpretation jedoch heißt Sigmund Freud, und ist auf den Unterleib spezialisiert. Daher gilt es, seit im Jahr 1899 sein bahnbrechendes Werk „Die Traumdeutung“ erschien, als verdächtig, wenn jemand etwa von einem Bleistift oder einer Zucchini träumt. Denn: „Das männliche Glied findet symbolischen Ersatz durch Dinge, die ihm in der Form ähnlich sind.“
Träume sind für Freud keine Botschaften des Himmels, sondern stammen aus dem „Unbewussten“, einem Bereich der Psyche, in dem emotionaler Müll lagert: Neid, Eifersucht, Elternmordgedanken, Inzest-Gelüste. Kurzum: Was wir träumen, verweist auf Zeitbomben, die in therapeutischen Sitzungen entschärft werden müssen.
Nach Ansicht mancher Neurowissenschaftler hingegen könnte man genauso gut das Rauschen des Windes in Baumwipfeln auf Botschaften aus den Untiefen der menschlichen Seele hin untersuchen. Träume entstehen aus zufällig ablaufenden Nervensignalen, behaupten sie. Im Jahr 1953 wurde der REM-Schlaf (Rapid Eye Movement) entdeckt. Wer aus dieser Schlafphase geweckt wird, berichtet meist von lebhaften Träumen. Der REM-Schlaf entspricht dem Traumschlaf, folgerten die Forscher. Und als man bald darauf das REM-Zentrum im Hirnstamm lokalisierte, einem Bereich des Gehirns, das an höheren emotionalen oder kognitiven Prozessen nicht beteiligt ist, behauptete der amerikanische Forscher Allan Hobson: Der Hirnstamm produziert während wir schlafen völlig willkürlich Nervensignale, und das Gehirn versucht, daraus halbwegs nachvollziehbare Bilder und Geschichten zu basteln – ohne jede tiefere Bedeutung. Sigmund Freuds Traumtheorie schien vom Tisch.
Dann jedoch stieß der südafrikanische Neurologe Mark Solms in den 1980er Jahren auf Patienten, die aufgrund eines Gehirntumors keinen REM-Schlaf mehr hatten und trotzdem träumten. In der Fachliteratur fand er Beispiele für das umgekehrte Phänomen: Menschen, die zwar einen normalen REM-Schlaf haben, aber nicht träumen. Bei den traumlosen Patienten, die er untersuchte, war ein Teil des Frontalhirns geschädigt, eine Region, die Neurologen als „Belohnungszentrum“ bezeichnen. Es wird aktiv, wenn wir etwas begehren. Sei es Nahrung, Zuneigung, Schlaf, Alkohol oder eben Sex. Freud war wieder halbwegs rehabilitiert.
Der Streit wogt bis heute hin und her: Spiegeln Träume nun das Seelenleben wider? Verweisen sie auf unsere Alltagsprobleme, unsere Wünsche und Begierden? Oder ist ihre tiefere Bedeutung lediglich ein Traumschloss, das sich Sigmund Freud ausgemalt hat? Ursula Voss von der Universität Bonn wollte es genauer wissen: Was sagen Träume zum Beispiel über die Lebenssituation der Träumenden aus? Ihr Team untersuchte, wie sich die Träume von körperlich Behinderten und Nichtbehinderten unterscheiden. 50 Probanden führten ein Traumtagebuch. Zehn der Versuchspersonen sind von Geburt an gelähmt, vier taubstumm und 36 nicht behindert.
Gelähmte können im Traum gehen und Taubstumme hören und sprechen. Menschen, die in der Realität noch nie etwas gehört haben, träumten von Musik oder von der Stimme ihres Vaters. In einigen Träumen waren Menschen auf einen Rollstuhl angewiesen – doch die stammten von Nichtbehinderten. Auch Taubstummheit spielte in manchen Träumen eine Rolle, aber nicht in Träumen der Taubstummen. „Ein zentraler Bestandteil des Lebens Behinderter, ihre Behinderung nämlich, kommt in ihren Träumen nicht vor“, sagt Voss. Träume knüpfen lange nicht so eng an den Alltag an, wie Freud vermutete.
Behinderte träumen, so die Resultate der Studie, auch nicht auffallend häufig davon, keine Behinderung zu haben. Die Fähigkeit, sprechen, hören oder gehen zu können, spielte in ihren Träumen keine wichtigere Rolle als bei den Nichtbehinderten. Sie waren also keineswegs fokussiert auf Lebensbereiche, die ihnen im Wachzustand versagt sind.
„Auch eine Psychoanalytikerin aus unserem Team war nicht in der Lage zu erkennen, welche der Träume von Behinderten stammten“, erzählt Voss. Offenbar geht es beim Träumen nicht um die Erfüllung von Wünschen. „Und Träume sagen anscheinend generell viel weniger über die reale Lebenssituation der Träumenden aus, als viele Laien und Forscher glauben“, sagt die Wissenschaftlerin.
Ein Resultat der Studie mit Kindern und Jugendlichen, die die Zürcher Psychologin Inge Strauch vor einigen Jahren durchgeführt hat, weist in eine ähnliche Richtung. Leistungsdruck in der Schule wirkt sich stark auf das Gefühlsleben von Jugendlichen aus. Doch nur in etwa jedem zehnten Traum von Jugendlichen, die Strauch untersuchte, spielten Lehrer, Unterrichtssituationen oder Prüfungen eine Rolle. „Ich denke, Jugendliche träumen einfach häufiger von Dingen, die sie wirklich interessieren“, sagt Strauch. Szenen auf dem Pausenhof kamen deutlich häufiger vor als Büffeln im Klassenzimmer.
Ursula Voss vermutet, dass träumen eine Form des kreativen Denkens ist. „Man erlebt und verarbeitet Themen im Traum in neuen Zusammenhängen“, sagt sie, „und löst sich von eingefahrenen Denkmustern.“ Untersuchungen von Martha Koukkou, Neurophysiologin und Psychiaterin aus Zürich, könnten diese These stützen: Bekannt war, dass sich die Hirnströme von Kindern und von Erwachsenen unterscheiden. Koukkou stellte fest, dass das Elektroenzephalogramm von Erwachsenen während des Tiefschlafs etwa jenem von Kindern entspricht, die wach sind. Auch Erwachsene haben, wenn sie träumen, also womöglich Zugriff auf kindliche Denkmuster, und sind dann fantasievoll und kreativ.
Beispiele gibt es. Dem Chemiker August Kekulé soll im Schlaf eingefallen sein, wie das Benzolmolekül aufgebaut ist: Im Traum erschienen ihm Schlangen, die sich reihum in den Schwanz bissen und eine Ringstruktur bildeten. Paul McCartney behauptet, er habe die Melodie für den Welthit „Yesterday“ geträumt. Und Wissenschaftler der Uni Lübeck konnten zeigen, dass Menschen nach Tiefschlaf Denkaufgaben besser lösen als Versuchspersonen, die keine Zeit zum Träumen hatten.
Die wichtigste Aufgabe von Träumen könnte aber eine ganz andere sein: Der südafrikanische Neurowissenschaftler Mark Solms berichtet, dass alle traumlosen Patienten, die er untersuchte, zwar unter keinen psychischen Störungen litten, aber dennoch beeinträchtigt waren: „Sie hatten nachts alle Schwierigkeiten, durchzuschlafen, und schreckten häufig auf.“ Gut möglich, dass Träume in erster Linie die „Wächter des Schlafes“ sind.
Auch eine Antwort aus der Zürcher Kinder-Umfrage von Inge Strauch passt zu dieser These. „Wir träumen“, sagte eine Elfjährige, „damit uns im Schlaf nicht langweilig wird.“
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