Virologe Streeck zur Coronavirus-Studie: „Die Veröffentlichung zu Heinsberg war nicht leichtfertig“
Die Studie des Teams um den Virologen Streeck hatte Aufsehen ausgelöst, aber auch viel Kritik. Im Interview verteidigt er Ansatz und Zeit der Publikation.
Hendrik Streeck ist Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn. Derzeit untersucht er mit einem Team aus Forschern die Verbreitung des Coronavirus im Kreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen, der deutschlandweit am stärksten von Erkrankungen durch das Virus betroffen war.
Herr Streeck, in Gangelt im Kreis Heinsberg untersuchen Sie derzeit auch die Immunität der Menschen gegenüber dem Virus. Ihre Zwischenergebnisse, die geringe Sterblichkeit und vor allem eine hohe Dunkelziffer, machte vielen Menschen Hoffnung, die strengen Pandemie-Maßnahmen würden sich rasch lockern. Welche Schlüsse lassen sich auf Deutschland übertragen?
Gerade die hohe Dunkelziffer bereits erfolgter Coronavirus CoV-2-Infektionen und damit eine temporäre Immunität von 15 Prozent an der Gesamtbevölkerung der Gemeinde bezieht sich ausschließlich auf Gangelt. Der Prozentsatz aller Infektionen in Deutschland ist derzeit unbekannt und sicher sehr viel niedriger. Um diese Zahl zu bestimmen müssten mehrere vergleichbare Studien an anderen Orten gestartet werden.
Was sich jedoch auf Deutschland schon übertragen lässt, ist die Sterblichkeitsrate unter den Menschen mit Coronavirus CoV-2-Infektionen: Unsere Ergebnisse erlauben eine recht gute Abschätzung der Letalität in der Größenordnung von 0,37 Prozent. Diese konnten wir mit einer repräsentativen Stichprobe gut ermitteln. Auch der Wissenschaftler Christian Drosten sagte im „heute journal“, dass dieser Wert ihn nicht überrascht.
Es wurde kritisiert, dass Sie teils mehrere Menschen pro Haushalt in die Studie aufnahmen, um diese Zwischenergebnisse zu generieren. Was halten Sie dem entgegen?
Die Untersuchung der Haushalte ist die Empfehlung der WHO, und wir haben unsere Studie an den Empfehlungen der WHO ausgerichtet. Wir haben insgesamt 1.000 Leute aus 400 Haushalten untersucht – das sind viermal mehr, als im WHO-Protokoll vorgesehen. Also statistisch absolut repräsentativ. Selbst die Zwischenanalyse der Daten an 240 Haushalten liegt noch mitten im Bereich der Empfehlung der WHO. Wir übererfüllen also sogar diese Empfehlungen mit der Studie.
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Wir haben natürlich auch schon vor der Bekanntgabe der Zwischenergebnisse beide Varianten gerechnet, Haushalte, und Einzelpersonen. Beides führt zu dem gleichen Ergebnis. Damit ist dieser Kritikpunkt ausgeräumt. Und weil diese Frage ja auch aufkam: Wir haben die identischen Tests genutzt, vom selben Anbieter, den auch die Charité nutzt, und nur IgG ausgewertet.
Bei der Vorstellung der Zwischenergebnisse am vergangenen Donnerstag sagten Sie: „Wir haben gelernt, wie wir uns hygienisch richtig verhalten“. Es sei möglich, „in eine Phase zwei“ einzutreten...
Wir wollten mit diesen Zwischenergebnissen Informationen liefern, die Politiker in ihre Entscheidungen mit einbeziehen können. „Phase zwei“ würde bedeuten, dass immer noch maximale Hygienemaßnahmen einzuhalten sind, aber dass Geschäfte wieder öffnen können und dass ein öffentliches Leben wieder ansatzweise möglich wird.
Derzeit befinden wir uns noch in der Phase der maximalen Eindämmung und „Quarantänisierung“ der Bevölkerung. Dies ist auch gut so, denn bislang konnte man überhaupt nicht abschätzen, was passiert, wenn die Infektion sich weiter ausbreitet. Nun können wir erstmals abschätzen, wie hoch die Sterblichkeit wirklich ist, wenn sich eine Person mit dem Virus infiziert.
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Damit kann man nun in etwa einschätzen, was passiert, wenn sich die Infektion in der Bevölkerung ausbreiten würde, bis eine sogenannte Herdenimmunität entsteht. Das ist der Fall, wenn sich etwa 60 bis 70 % der Bevölkerung infiziert haben. Auf dem Weg zur Herdenimmunität breitet sich die Infektion dann auch immer langsamer aus, so dass das Gesundheitssystem nicht so stark belastet wird.
Ihr Kollege Drosten sagte am Donnerstag im ZDF: „Die Wissenschaftsgemeinschaft muss das jetzt auch erklärt bekommen.“ Wäre eine Begutachtung der Zwischenergebnisse durch weitere Wissenschaftler sinnvoll gewesen? War es zu früh?
Die Veröffentlichung ist keinesfalls leichtfertig erfolgt. Wir haben bis in die Nacht auf Donnerstag darüber diskutiert, ob wir jetzt erste Daten präsentieren sollen. Wir entschieden uns dazu aus ethischen Gründen, und weil wir uns verpflichtet fühlten, einen nach wissenschaftlichen Kriterien erhobenen validen Zwischenstand vor Publikation mitzuteilen.
Das ist absolut üblich, Zwischenergebnisse werden auf Kongressen ständig und auf der ganzen Welt mitgeteilt, in Vorträgen und über Posterpräsentationen. Nur dies ermöglicht eine jeweils aktuelle wissenschaftliche Diskussion. Zu behaupten, dies sei unwissenschaftlich, stimmt schlichtweg nicht, und mag aus ganz anderen Gründen erfolgt sein.
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Es ist wichtig, die Öffentlichkeit transparent und schnell über die Zwischenschritte zu informieren. Gerade jetzt. Wenn wir einen sogenannten peer-review, eine in der Wissenschaft übliche Begutachtung durch weitere Experten, hätten durchführen lassen, bis hin zu einer schriftlichen Publikation, wären Monate vergangen. Die derzeitige so volatile Lage mit einer raschen Ausbreitung des Coronavirus lässt uns diese Zeit nicht. Da wäre nicht verantwortungsvoll.
Kritisch betrachtet wird auch, dass Ihr Forscherteam in der Öffentlichkeitsarbeit von der Social-Media-Agentur Storymachine, gegründet vom früheren „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann, unterstützt wird. Wie kam diese Zusammenarbeit zustande?
Die Unterstützung haben wir vom ersten Moment an klar und transparent deutlich gemacht. Ich finde übrigens, dass man Forschung so offen dokumentiert, gerade jetzt inhaltlich richtig und spannend. Storymachine hat mir angeboten, uns bei der Arbeit an der Studie zu beobachten, und diese Beobachtungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Im Sinne der maximalen Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit habe ich dieses Angebot gerne angenommen, und mit der Leitung des Universitätsklinikums abgestimmt.
Ob diese Tätigkeit aus Steuergeldern finanziert wird, war gerade Inhalt einer kleinen Anfrage der SPD im Düsseldorfer Landtag...
Richtig. Doch weder ich, das Universitätsklinikum, die Universität oder das Ministerium haben für diese Öffentlichkeitsarbeit von Storymachine Geld bezahlt. Ziel war und ist es, unsere Arbeit für die Menschen besser sichtbar zu machen. Unsere Forschungsarbeit aber wird mit rund 65.000 Euro vom Land Nordrhein-Westfalen unterstützt.
Drosten sagte auch, man brauche jetzt schnell ein Manuskript der Studie, um diese beurteilen zu können und das Design und die Methodik dahinter zu verstehen. Wann werden sie die Ergebnisse präsentieren können?
Die Daten aus über 1000 Personen sind nun alle komplett, derzeit fassen wir diese zu einer Publikation zusammen. Diese wird dann wie in der Wissenschaft üblich bei einem Journal eingereicht, und dieses Journal bezieht dann internationale Gutachter ein. Ein ganz normaler Vorgang.