Verfolgung von Juden in Nordafrika: Die vergessenen Opfer des Holocaust
Während des Zweiten Weltkriegs wurden auch in Nordafrika Juden systematisch von den Nazis verfolgt. Erst jetzt werden die Schicksale der Opfer aufgearbeitet.
Vor wenigen Tagen, am 27. Januar 2017, jährte sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch Soldaten der Roten Armee zum 72. Mal. Auschwitz steht seit vielen Jahren symbolisch für den industrialisierten Massenmord an sechs Millionen europäischen Juden. Wahrscheinlich gibt es kaum ein Ereignis, das die Wissenschaft intensiver beforscht hat, als die von den Nazis anvisierte und beinahe vollständig umgesetzte Vernichtung des europäischen Judentums.
Nun beschränkten sich die antisemitischen Aktivitäten des NS-Regimes aber nicht auf Deutschland und seine Nachbarländer. Die Frage jedoch, wie es Jüdinnen und Juden außerhalb Europas unterm Hakenkreuz erging, wird vergleichsweise selten gestellt. Im Rahmen des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus, der jedes Jahr am 27. Januar international begangen wird, gab es im Jüdischen Museum Berlin nun eine Tagung, auf der Wissenschaftler und Journalisten aus Deutschland, Italien und Israel den Forschungsstand zum Schicksal der Juden in Nordafrika zur Zeit des Zweiten Weltkriegs diskutierten.
Im Zentrum stand die kontroverse Frage, inwiefern sich die Geschichte des nordafrikanischen Judentums in die gesamtjüdische Verfolgungsgeschichte einbetten lässt. Kann man die maghrebinischen Juden (und andere Mizrachim, also Juden aus dem Nahen Osten und Asien), die in den frühen vierziger Jahren unter dem Einfluss des Nationalsozialismus zu leiden hatten, als Opfer der Schoah bezeichnen?
Die NS-Rassenideologie wurde in Nordafrika umfassend praktiziert
Weitgehend einig ist sich die Forschung darin, dass die Ermordung der außereuropäischen Juden langfristiges Ziel der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik war, auch wenn die offiziellen Endlösungsprotokolle aus Wannsee die Juden Europas fokussieren. Demnach wäre es hier wohl angebracht, von einem Holocaust zu sprechen, der sich in Entwicklung befand, aber aus mehreren Gründen nicht „vollendet“ wurde.
Der Potsdamer Historiker Patrick Bernhard erklärt, dass die Rassenideologie in Nordafrika umfassend praktiziert worden sei. Auch habe es unter der Leitung des SS-Obersturmbannführers Walther Rauff, der maßgeblich für die Entwicklung mobiler Gaswagen verantwortlich zeichnet, ein Sonderkommando gegeben. Dieses sei mit der systematischen Ermordung all jener Juden betraut gewesen, derer die Deutschen im Zuge des Afrikafeldzuges habhaft werden konnten.
Dass es dazu nicht in vollem Umfang kam, habe schlichtweg daran gelegen, so Bernhard, dass den Nazis Zeit und Mittel fehlten, ihr grausames Vorhaben umzusetzen. Zudem hätte die Ermordung ob des zunehmenden Erfolges britischer und amerikanischer Offensiven gleichsam in „Reichweite“ der Alliierten stattfinden müssen. Die Nationalsozialisten wollten sich jedoch bei ihrem mörderischen Handwerk nicht die unmittelbare Zeugenschaft des Kriegsgegners einhandeln.
Entrechtung, Ausgrenzung, Zwangsarbeit
Obwohl die flächendeckende Vernichtung letztlich ausblieb, kam es in allen maghrebinischen Ländern, die mittelbar oder unmittelbar unter dem Einfluss der Deutschen standen, zu Entrechtung, Ausgrenzung, Zwangsarbeit und zur Internierung in Ghettos und Konzentrationslagern. Die Situation in Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen sei aber jeweils eine andere gewesen, erklären die Teilnehmer der Tagung. Die jüdischen Bürger dieser Länder seien auf unterschiedliche Weise von Theorie und Praxis der NS-Gesetzgebung betroffen gewesen.
In Libyen, das unter Besatzung der mit Deutschland verbündeten Achsenmacht Italien stand, hielt sich die Diskriminierung vorerst in Grenzen. Der Antisemitismus war anders als in Deutschland kein zentrales Ideologem des italienischen Faschismus. Doch je näher sich Hitler und Mussolini kamen, desto umfassender griff die antijüdische Gesetzgebung auch in den italienisch beherrschten Gebieten, erklärt der Journalist und Libyen-Experte Eric Salerno. Zwar habe sich der Generalgouverneur von Italienisch-Libyen Italo Balbo lange gegen eine „Arisierung“ des Vermögens der rund 30 000 Seelen umfassenden vitalen jüdischen Gemeinden zwischen Tripolis und Bengasi gesperrt, da er einen Zusammenbruch der libyschen Wirtschaft befürchtete.
Die Rolle der italienischen Politik
Nachdem die britischen Truppen aber bei ihren Vorstößen in der Kyrenaika von jüdischer Seite als Befreier gefeiert wurden, änderte sich die italienische Politik. Die Juden wurden nun der Kollaboration bezichtigt und ab 1942 deportiert: zum einen in europäische KZs, zum anderen in das berüchtigte Lager Giado an der libyschen Grenze, in dem hunderte libysche und italienische Juden durch Misshandlung, Mangelernährung und Krankheiten ums Leben kamen.
Die Juden in Marokko, Algerien und Tunesien waren bis 1942 dem Vichy-Regime unterstellt. Genau wie in Frankreich griff die antisemitische Gesetzgebung des Marshall Pétain seit 1940 auch in den Maghreb-Staaten, sagt der israelische Historiker Michel Abitol. Mit dem „Statut des Juifs“ wurde nordafrikanischen Juden die französische Staatsbürgerschaft entzogen. Anders als in Libyen kam es zu einer „Arisierung“ jüdischer Vermögen; ferner zu Entlassungen aus etlichen Berufen, zu Wohnverboten in europäischen Vierteln, zur Internierung in Lagern und zur Zwangsarbeit in der Sahara.
Abitol erklärt, in Algerien sei die antisemitische Gesetzgebung dabei bereitwilliger umgesetzt worden als in Marokko und Tunesien, weil es hier, anders als dort, bereits bestehende antijüdische Strukturen gab. Der marokkanische König zum Beispiel habe zwar einige antisemitische Dekrete unterzeichnet, jedoch nur auf starken Druck der Vichy-Franzosen. So sei es in Nordafrika auch zu unterschiedlichen Handhabungen der Rassengesetze gekommen. Wer in Marokko als Jude zum Islam konvertierte, galt fortan als Muslim, in Algerien wurde „das Jüdische“ hingegen in biologischen Begriffen definiert, sagt Abitol. Die Konversion bot demnach keinerlei Schutz vor antisemitischer Verfolgung.
Der Afrikafeldzug war kein "Gentlemen-War"
Anders als Marokko und Algerien, wo es im November 1942 im Zuge der Operation Torch zur Landung britischer und amerikanischer Soldaten kam, war Tunesien vom Einmarsch deutscher und italienischer Truppen betroffen. Dies verschärfte auch die Lage der tunesischen Juden.
Der Historiker Patrick Bernhard räumt mit dem Mythos auf, beim Afrikafeldzug habe es sich im Wesentlichen um einen „Gentlemen-War“ zwischen den Generälen Rommel und Montgomery gehandelt: „Das Motiv vom ritterlichen, quasi aus der Zeit gefallenen Krieg ist eine hartnäckige Legende der unmittelbaren Nachkriegszeit. Tatsächlich gab es ein beträchtliches Maß an rassistisch und antisemitisch motivierter Kriegsgewalt.“
Im Schatten des Tunesienfeldzuges kam es unter dem Kommando von Walther Rauff zur systematischen Judenverfolgung. Auch ermunterten die neuen Machthaber die einheimische Bevölkerung, Rache für die alliierten Luftangriffe zu nehmen, die dem „internationalen Judentum“ angelastet wurden. Ziel dieses Verschwörungsdiskurses war es, einen Keil zwischen die lokalen Muslime und ihre jüdischen Nachbarn zu treiben, die bis dato meist friedlich koexistiert hatten und zudem in gleicher Weise von den Luftschlägen betroffen waren.
Juden kämpften in der nordafrikanischen Resistance
Bei der Fülle an antisemitischen Aktionen, unter denen sie zu leiden hatten, verwundert es nicht, dass die Juden in Nordafrika einen erheblichen Widerstand aufboten: gegen deutsche, italienische und vichy-französische Kräfte. In allen Ländern des Maghreb verpflichteten sich zahlreiche Juden in der Freien Französischen Armee. Auch kämpften sie als wesentlicher Teil der nordafrikanischen Resistance recht erfolgreich gegen die Truppen des Vichy-Regimes.
„Die ideologische Basis und die gesetzliche Grundlage der Diskriminierung galten in Afrika genau wie in Europa. Die Auswirkungen des staatlichen Antisemitismus waren aber andere“, sagt Michel Abitol. Da nicht zuletzt der quantitative Aspekt von vielen Historikern als ein zentrales Kriterium des Holocaust gesehen wird, herrscht in der Forschung Dissens darüber, ob das Schicksal der orientalischen Juden als ein Teil der Schoah gelten kann. Doch auch wenn die meisten Mizrachim, im Gegensatz zu ihren aschkenasischen Glaubensbrüdern, letztlich der Vernichtung entgingen, blieb der antisemitische Terror der Nazis und ihrer Verbündeten mitnichten auf Europa beschränkt.