DDR-Hochschulen nach 1989: „Die Universität trug leider nichts zur Wende bei“
Das schwierige Erbe der DDR: Der Umbruch nach 1989 verlief an ostdeutschen Hochschulen oft nur zögerlich.
Am Neubau der Leipziger Universität prangte über dem Haupteingang der Kopf von Karl Marx, ihres Namensgebers bis 1991. Die Karl-Marx-Universität war neben der Berliner Humboldt-Universität eine der Elitehochschulen der DDR. Die Wende ereilte Leipzig am 13. Februar 1991: An diesem Tag wurde Cornelius Weiss zum Rektor gewählt und das Konzil beschloss den Abschied von Marx. Weiss war ein regimekritischer Naturwissenschaftler, der in der DDR nicht Karriere machen konnte.
Warum hat die Neuorientierung in Leipzig eineinhalb Jahre gedauert? In der Übergangszeit von der DDR zur Bundesrepublik wurde die Chance zur Veränderung nur halbherzig genutzt. Ohne den Druck durch Minister und Gesetzgeber wäre die Reform stecken geblieben. Denn die Mehrheit der Professoren war der DDR durch Mitgliedschaft in der SED eng verbunden. Ihre Karrierewege in der Wissenschaft waren sowohl der staatlichen Planwirtschaft als auch dem marxistisch-leninistischen Erziehungsauftrag zu verdanken.
Wie sollte man eine Hochschulreform gestalten, die nicht bloß aus einer Übernahme westdeutscher Organisations- und Rechtsmodelle bestand? Vor dieser Frage standen Politiker aus dem Osten wie der letzte Wissenschaftsminister der DDR und spätere sächsische Wissenschaftsminister Hans-Joachim Meyer ebenso wie der Berliner Wissenschaftssenator Manfred Erhardt.
Den Geist, der nach der Wende noch an der alten Leipziger Universität geherrscht hatte, schilderte Rektor Cornelius Weiss so: „Die Universität als Ganzes trug leider absolut nichts zur längst überfälligen Wende bei, wie es ihr als geistigem Zentrum der Stadt wohl angestanden hätte. Im Gegenteil, sie wartete ab, hüllte sich in Schweigen, bremste gar, erwies sich wie schon so oft in ihrer Geschichte als vorsichtig, konservativ, ja als reaktionär. Schlimmer noch, auch nach der Wende, als kritische Worte schon nicht mehr gefährlich waren, fehlte der Universität in den meisten Bereichen die Kraft und vielleicht auch der Wille zur Aufarbeitung der Vergangenheit, zur Trauerarbeit, zur geistigen Erneuerung und zur demokratischen Umgestaltung von innen heraus.“
Was machte die Wissenschaftler und Studierenden zögerlich? In der DDR waren Studenten und linientreue Wissenschaftler privilegiert. Wer als Studienbewerber den üblichen Weg von den Jungen Pionieren über die FDJ bis zum Wehrdienst in der Volksarmee beschritten hatte, konnte anschließend mit einem Studienplatz rechnen, wenn auch nicht immer in seinem Wunschfach. Nur 12 Prozent eines Jahrgangs hatten die Chance, die erweiterte 12-klassige polytechnische Oberschule und später die Hochschulen zu besuchen. Die Wahl des Studienplatzes war reglementiert. Zum Beispiel sollten nach den Erfordernissen der Planwirtschaft 40 Prozent der Studienbewerber eine technische Wissenschaft wählen. Die einmal akzeptierten Studenten mussten sich der Disziplin von Seminargruppen unter der Leitung zuverlässiger FDJ-Funktionäre unterwerfen und zu Ernteeinsätzen und militärischen Übungen jederzeit bereit sein. Im Gegenzug bekamen fast alle Stipendien und Wohnheimplätze zugewiesen. Den Hochschulabsolventen war ein Arbeitsplatz sicher.
Nach der Wende erschien es vielen Studenten an den DDR-Hochschulen schon als ausreichende Reform, dass das dreijährige Pflichtstudium des Marxismus-Leninismus abgeschafft wurde und die Studenten in den Gremien nicht mehr durch die FDJ, sondern durch Repräsentanten der neu gewählten Studentenreferate vertreten wurden. Der Geist des Aufruhrs, der 1968 an den Universitäten in Paris und der Bundesrepublik oder beim Prager Frühling geherrscht hatte, war in der DDR nicht angekommen. Selbst Lehrverbote für überzeugte und zugleich bei den Studenten beliebte Marxisten wie Robert Havemann an der Humboldt-Universität (HU) oder Ernst Bloch in Leipzig waren kein Anlass zu einem Hochschulstreik.
Der Mut zum Protest zeigte sich erst nach der Wende. Die mehrheitlich linken Studenten der HU stellten sich solidarisch hinter Heinrich Fink, den neu gewählten Rektor. Fink war 1991 von Wissenschaftssenator Manfred Erhardt entlassen worden, weil er trotz seiner Herkunft als Theologe unter dem inzwischen bewiesenen Verdacht stand, als informeller Mitarbeiter für die Stasi gearbeitet zu haben.Vehemente Studentenproteste gab es in Berlin und Leipzig auch gegen die Abwicklung marxistisch indoktrinierter Fächer. Obwohl der Abschluss der Studien in den abzuwickelnden Fächern mit Hilfe neuer, aus dem Westen importierter Dozenten garantiert wurde, sahen die Studenten in der Abwicklung einen Staatseingriff und bereits kurz nach der Wende eine Abkehr von der Verheißung der Autonomie.
Viele westdeutsche Wissenschaftler nahmen die große Anstrengung auf sich, neben dem normalen Lehrbetrieb an ihren Heimathochschulen auch bei dem Aufbau einer ideologiefreien Wissenschaft in den neuen Ländern zu helfen. Selbst wenn sie in Bruchbuden, Dachkammern oder Hotelschiffen auf der Elbe monatelang hausen mussten, folgten sie den Aufrufen von Hochschulrektorenkonferenz und Politikern. Sie wirkten als Gründungsdekane in den Fachbereichen mit und als Fachgutachter in den wissenschaftlichen Kommissionen. Ihrer Mitwirkung ist es zu verdanken, dass die DDR eben nicht als „wissenschaftliche Wüste“ eingestuft wurde, wie es der damalige Vorsitzende der Max-Planck-Gesellschaft, Hans Zacher, in einem unbedachten Wort formuliert hatte, das im Osten als typisch für die „Besserwessis“ angesehen wurde.
In vielen Wissenschaftsdisziplinen fehlte den DDR-Wissenschaftlern eigentlich nur die Kenntnis der westlichen, vor allem der englischsprachigen Literatur. Denn der Zugang zur westlichen Literatur war genauso wie die Erlaubnis zu Westreisen nur einem ausgewählten Kreis politisch zuverlässiger Wissenschaftler ermöglicht worden. Um den Wissenschaftlern der DDR eine Chance zu bieten, sich auf den neuesten Stand zu bringen, beließ man viele in ihren Positionen, bevor über ihre Berufung entschieden wurde. Von Tabula rasa konnte keine Rede sein. Wissenschaftsminister Hans-Joachim Meyer hat für Sachsen im Dezember 1994 Bilanz gezogen: Von 1762 Rufen an Professoren gingen 1164, – das entspricht 66 Prozent – an Wissenschaftler und Künstler aus den neuen Ländern, 559 an Wissenschaftler aus der alten Bundesrepublik und 39 an Ausländer.
Die Mehrzahl der Berufenen aus der einstigen DDR kam aus dem Mittelbau – jener Gruppe von Wissenschaftlern, die oft aus politischen Gründen nicht zu Professoren berufen worden waren. Nur ein Fünftel der Professoren aus der alten DDR wurden in Sachsen neu berufen. Aber die in der DDR mit Personal großzügig ausgestatteten Hochschulen spürten bald die Grenze der Finanzierbarkeit. Trotz der international beschämenden Betreuungsrelationen an den westdeutschen Hochschulen setzten die Finanzminister in den neuen Ländern die Personalausstattung westdeutscher Länder als Maßstab durch. Für Sachsen wurde der Personalbestand von 21 000 Wissenschaftlern auf 11 000 verringert. Ein solcher Aderlass löste auch bei ideologisch unbelasteten Dozenten Empörung und Resignation aus. Das Gegenteil zum Abbau Ost zeichnete sich in Berlin ab: Unter Wissenschaftssenator Erhardt wurde die HU als die Hauptstadtuni in Mitte besonders gefördert. Den großen Unis im Westteil der Stadt verlangte der Berliner Senat dagegen schmerzliche Sparopfer ab.
Die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit bleibt bis heute an allen ostdeutschen Hochschulen „ein Randthema“, wie Ilko-Sascha Kowalczuk, Historiker bei der Birthler-Behörde, kritisiert. In den Universitätsgeschichten zähle die DDR-Ära „eher zum ungeliebten Anhängsel“. Kowalczuk sieht eine „Verdrängungsallianz“ und ein „Schweigekartell“ am Werk, die eine ehrliche Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Erbe verhinderten. Exemplarisch sei die Karriere, die der Erziehungswissenschaftler Jan-Hendrik Olbertz nach der Wende machte, der langjährige Kultusminister von Sachsen-Anhalt und künftige HU-Präsident. Die Dissertation und Dissertation B (Habilitation), die Olbertz 1981 und 1989 in Halle einreichte, seien geprägt von „ideologischen Plattitüden“ und Zitaten kommunistischer Funktionäre wie Erich und Margot Honecker. Kowalczuks Vorwürfe lösten unlängst eine breite Diskussion über den Umgang mit akademischem Opportunismus in der DDR aus.
Die deutsche Einigung war nicht vorhersehbar gewesen, und es existierten keine Blaupausen in den Schubladen. Insofern galt das westliche Modell auch für die Übernahme von Fachhochschulen und die Neugründung der Akademien in der DDR. Die Akademie der Wissenschaften der DDR war nach sowjetischem Vorbild mit einem Kranz von 70 Forschungsinstituten umgeben. Das sowjetisch inspirierte DDR-Modell stand der westdeutschen Tradition von Länderakademien als reinen Gelehrtensozietäten im Wege.
Eine Großorganisation für die neuen Länder zu schaffen, wollte die Allianz der Wissenschaftsorganisationen der alten Bundesrepublik verhindern. Max-Planck- und Fraunhofer-Gesellschaft und die Großforschungseinrichtungen waren vehement gegen diese Lösung. Die vom Wissenschaftsrat positiv bewerteten Akademieinstitute wurden daher größtenteils in die „Blaue Liste“ transferiert.
Als im ersten Elitewettbewerb der deutschen Universitäten die Sieger gekürt wurden, schnitt Ostdeutschland allerdings schwach ab. Dem Eindruck, der Osten hinke auch zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung in der Wissenschaft hinterher, widerspricht Peter Gruss, der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft: Im Umfeld der Max-Planck-Institute seien auch die Universitäten aufgeblüht. Sie hätten daher „viele Möglichkeiten, bei der Exzellenzinitiative zu reüssieren“. Er denke an Dresden, das sich „auch in der Breite“ zu einem starken Standort entwickelt habe. Beim Aufbauprozess sei in der Retrospektive sehr viel „richtig gemacht worden“.
Hans-Joachim Meyer bedauert indes noch heute, dass die Chance nach 1990 zu einem großen Wurf, nämlich einer „gesamtdeutschen Hochschulreform aus einem Guss“, nicht genutzt wurde. Dennoch lautet sein Fazit: „Wissenschaft und Hochschulen bieten die wichtigsten Chancen, über die der Osten Deutschlands heute verfügt.“
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