Genetik: Die Über-Gene
Epigenetiker erklären, warum sich unser Lebensstil noch Jahrzehnte später auf unsere Nachkommen auswirkt. Veerben wir Eigenschaften, die nicht auf unseren Genen fixiert sind?
Oft ist es gar nicht so wichtig, welche Gene wir geerbt haben, sondern welche Gene an- oder abgeschaltet sind. Die Epigenetik erforscht jene Schalter auf den Genen, die unser Leben prägen können.
Seit einiger Zeit stöbern Forscher in großen Datenbanken und finden verblüffende Hinweise, dass sich der Lebensstil von Menschen auf ihre Nachfahren auswirkt: Haben Väter zum Beispiel in der Zeit, in der ihre Spermien reiften, geraucht, neigen ihre Kinder zu Übergewicht. Haben Großeltern vor der Pubertät zu viel und zu ungesund gegessen, bekommen ihre Enkel eher einen Herzinfarkt. Und Menschen, die lange Zeit hungerten, haben zu kleine Nachfahren mit einer verringerten Lebenserwartung.
Kann es sein, dass wir Eigenschaften vererben, die nicht in unseren Genen fixiert sind, dass es einen zweiten Informationscode gibt, mit dem Zellen ihre Reaktion auf Umweltreize festhalten? Epigenetiker sagen Ja. Sie vertreten einen neuen Forschungszweig, die „Über“- oder „Nebengenetik“. Bestätigen sich ihre Resultate, werden wir in Zukunft in die Gesundheit eines Menschen schon lange vor seiner Geburt investieren.
„Nachdem das Genom weitgehend aufgeklärt ist, konzentrieren wir uns darauf, wann und warum welcher Teil des Erbguts an- oder abgeschaltet ist“, sagt der Molekularbiologe Renato Paro, Leiter des Departments Biosysteme der ETH Zürich in Basel. Jede Zelle eines Lebewesens hat nämlich das gleiche Erbgut. All die Unterschiede, etwa zwischen einer Nerven- und einer Hautzelle, rühren daher, dass jeweils andere Gene aktiv sind.
Ungefähr vier Fünftel der rund 22.500 menschlichen Gene scheinen für jede Zelle lebenswichtig zu sein und sind immer aktiv. Die restlichen Gene werden epigenetisch gesteuert, das heißt „sie tragen molekulare Elemente, die wie Flaggen anzeigen, ob sie abgelesen werden sollen oder nicht“, sagt Paro. Eine Flaggen-Art sind Methylgruppen, die direkt an die Gene binden und deren Ablesen verhindern. Andere Flaggen sitzen an den Histonen. Das sind Eiweiße, um die sich das Vererbungsmolekül DNS wickelt. Sie können das Ablesen von Genen erleichtern oder dafür sorgen, dass ein DNS-Stück so fest verpackt wird, dass seine Information nicht mehr verfügbar ist.
Es sind diese Flaggen, die über die Bestimmung einer Zelle und ihrer Nachfahren entscheiden. Sie machen aus einer embryonalen Stammzelle mit ihrem Potenzial, sich in jede erdenkliche Körperzelle verwandeln zu können, eine Körperzelle mit festgelegter und somit begrenzter Form und Aufgabe. Die Sensation, als ein amerikanisches und ein japanisches Forscherteam kürzlich menschliche Hautzellen erstmals in Zellen zurückverwandelten, die embryonalen Stammzellen ähnelten, war also letztlich eine Reprogrammierung der Epigenetik. Die Forscher verschoben und entfernten die Flaggen auf den Genen der Hautzellen so, dass diese in ihren Urzustand versetzt wurden.
Doch die Flaggen spielen nicht nur bei der Entwicklung der Zellen eine Rolle. Welche Macht sie haben, zeigte Randy Jirtle von der Duke-Universität in Durham, USA, vor vier Jahren: Er fütterte schwangere Mäuse, die wegen einer genetischen Veränderung ein blassgelbes Fell hatten, mit einer vitaminreichen Spezialdiät. Allein dadurch bekamen die meisten Nachkommen ein normales braunes Fell. Sie hatten das mutierte Gen zwar geerbt, angelagerte Methylgruppen schalteten es jedoch ab. Und nicht nur das: Die Mäuse, deren Mütter während der Schwangerschaft vitaminreich ernährt worden waren, blieben zeitlebens schlanker und gesünder als die anderen Mäuse. Sind wir nicht nur, was wir essen, sondern auch, was unsere Mutter gegessen hat?
Mäuse stehen dem Menschen biologisch so nahe, dass sich diese Resultate zumindest prinzipiell auf uns übertragen lassen, meinen die Epigenetiker. Zudem scheinen uns nicht nur die Umwelteinflüsse vor und nach der Geburt zu prägen. Analysen eineiiger Zwillinge zeigen, dass sie sich im Laufe ihres Lebens immer unähnlicher werden. Vermutlich, weil bei ihnen durch unterschiedliche Lebensstile verschiedene Gene an- oder ausgeschaltet werden. Es ist also nie zu spät, auf eine gesunde Lebensführung umzusteigen. Noch viel rätselhafter erscheint, dass Teile des epigenetischen Codes an folgende Generationen weitergegeben werden. Das wurde inzwischen bei vielen Tierarten gezeigt, unter anderem von Renato Paro in Experimenten mit der Fruchtfliege Drosophila. Er setzte speziell gezüchtete weißäugige Insekten kurzzeitig einem Hitzeschock aus, wovon einige rote Augen bekamen. Der Umweltreiz hatte epigenetische Schalter am Augenfarben-Gen verändert.
Dann schaute Paro nach den Nachkommen der rotäugigen Fliegen: „Das Erstaunliche war, dass auch von diesen einige rote Augen hatten.“ Die Veränderung müsse also bis in die Keimzellen vorgedrungen und vererbt worden sein. Durch Selektion der rotäugigen Nachkommen konnte Paro die epigenetische Vererbung dieses Merkmals über mindestens sechs Generationen verfolgen.
Auch bei der Neigung zu Krebs hat die Epigenetik ihre Finger im Spiel. Zellen besitzen eine Reihe von Schutzmechanismen, die bösartige Veränderungen im Keim ersticken. Oft sind aber mehrere davon durch falsch gesetzte Gen-Schalter blockiert. „Das erklärt, warum manche Menschen eine Veranlagung zu einem bestimmten Krebs haben ohne entsprechend mutierte Krebs-Gene zu besitzen“, sagt Paro. Pharmafirmen entwickeln Medikamente, die gezielt Methylgruppen oder Histone in Krebszellen verändern. Die Berliner Firma Epigenomics testet zudem einen Bluttest zur Früherkennung von Darmkrebs, der ein bestimmtes Methylgruppenmuster erkennt.
Selbst unsere Psyche unterliegt den prägenden Einflüssen der Epigenetik, sagt der Psychobiologe Dirk Hellhammer von der Uni Trier: Die Frage, wie empfindlich wir im Laufe unseres Lebens auf Belastungen reagieren, werde nach seinem Eindruck „zu etwa 70 Prozent in der Zeit vor und nach der Geburt im epigenetischen Muster festgelegt“, folgert er aus Beobachtungen bei 1200 Menschen.
Offenbar macht es Kinder später im Leben besonders anfällig für Stressleiden, wenn sie vor der Geburt oder in den ersten Jahren extremer Verwahrlosung, einem Trauma oder Ähnlichem ausgesetzt waren. „Dass es da einen direkten Zusammenhang gibt, ist inzwischen eindeutig belegt“, sagt Hellhammer.
So zeigte der Psychologe Michael Meaney von der McGill-Universität im kanadischen Montreal, dass Ratten, die als Neugeborene von ihren Müttern gut umsorgt und viel abgeleckt werden, später ruhig, mutig und ausgeglichen sind. Vernachlässigte Tiere werden ängstlich und aggressiv. Bei ihnen blockieren Methylgruppen im Gehirn das Gen für die Andockstelle des Stresshormons Cortisol. Ihre Stressreaktion ist gestört. Inzwischen fanden sowohl Meaneys als auch Hellhammers Arbeitsgruppe ähnliche Effekte bei Menschen. „Je nachdem, in was für einer Entwicklungsphase das Gehirn gerade ist, kann ein extremer Stress der Mutter ganz unterschiedliche Folgen für das Kind haben“, sagt Hellhammer.
Noch wird es dauern, bis sich all diese Vermutungen bestätigen. Spätestens dann gibt es jedoch viele neue Argumente, seine Kinder lieb zu haben, sich niemals eine Zigarette anzuzünden und möglichst ausgewogen zu ernähren. Anscheinend haben wir unser biologisches Schicksal und das unserer Kinder ein Stück weit selbst in der Hand.
Peter Spork