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220 Meter lang. Die Seebrücke aus Stahlbeton entstand 1973. Sie ersetzte den im Krieg zerstörten Seesteg, eine eher romantische Holzkonstruktion.
© Hella Kaiser

Wellness an der polnischen Ostsee: Die Renaissance der Spazieralleen

Im 19. Jahrhundert wurde die Festung Kolberg zum noblen Kurort – und lag 1945 in Trümmern. Nun lockt er mit vielen Spa-Hotels.

Einmal in der Woche hält Hieronim Kroczynski seinen Lichtbilder-Vortrag: „Kolberg gestern und heute“. Und regelmäßig füllt sich dann der Kinosaal im Arka Medical Spa Hotel wie an diesem Abend im April. Der Historiker geht weit zurück in die Geschichte, schließlich ist Kolberg an der Persantemündung gut 1000 Jahre alt. Das Publikum aber will vor allem wissen, wie der Kurort aussah, bevor er im März 1945 in Schutt und Asche versank. Und erst allmählich als Kolobrzeg – sprich: Kouobschek – mit vielen mehrgeschossigen Plattenbauten, neuen Hotels und zahlreichen Parks wieder Konturen annahm.

„Ah und oh“, raunt das Saalpublikum, als Kroczynski das Foto vom Strandschloss an die Wand wirft. 1899 wurde der riesige strahlendweiße Bau eröffnet, mit Türmchen, Erkerchen und reichen Verzierungen im Zuckerbäckerstil. „Drinnen gab es einen Festsaal für tausend Personen“, weiß Kroczynski. Eine Trinkhalle im Renaissance-Stil und eine romantische Tropfsteingrotte ergänzten die Pracht, und hinter dem Gebäude entstand ein großer Rosengarten. Für Flaneure gab es einen anmutigen hölzernen Seesteg, der sich meterlang ins Meer reckte. Kolberg gehörte neben Berchtesgaden und Garmisch-Partenkirchen zu den nobelsten Bäderadressen in Deutschland.

Dabei hatte sich die Entwicklung der einstigen Militärstadt zum Kurort nur langsam vollzogen. Zwar schwärmten schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts einzelne Gäste von der „heilenden Wirkung des Meeres“ in Kolberg. Allerdings erst 1828 erlaubte das preußische Kriegsministerium die Dünen zu bepflanzen und „Spazieralleen anzulegen“. So beschreibt es Robert Smigielski in seinem Stadtführer „Das tausendjährige Kolberg“. Zwei Jahre später, 1830, eröffnete dann das erste Solbad. 1872 ordnete Kaiser Wilhelm I. die Aufhebung des Festungsstatus an. Mauern wurden abgetragen, Forts geschleift und durch Grünanlagen ersetzt. Kurhäuser, Hotels und Pensionen entstehen. Kolbergs „goldene Jahre“, so formuliert Autor Smigielski, beginnen. Die Vormacht des Militärs schien gebrochen. Doch der Zweite Weltkrieg machte alles zunichte. Die einstige „Perle an der Ostsee“ ging unter.

Zwei Wochen lang, vom 4. bis zum 18. März 1945, dauerten die Kämpfe um Kolberg, das Ende 1944 erneut zur Stadtfestung erklärt worden war. Sowjetische und polnische Armeeeinheiten belagerten den Ort, überrascht vom entschlossenen Widerstand der Verteidiger. Neben rund 40 000 Einwohnern hielten sich Schätzungen zufolge mindestens 50 000 Flüchtlinge in Kolberg auf. Die verbissene Verteidigung erklärte der Festungskommandant Oberst Fullriede damit, möglichst viele von ihnen noch auf dem Seeweg evakuieren zu können.

Rund 17 000 Menschen sollen während der beiden Märzwochen umgekommen sein, 90 Prozent der Stadt Kolberg wurden zerstört. Im „Museum für polnische Waffen“ erhält man eine Ahnung vom Inferno. Beklommen steht man vor einem fast zehn Meter langen Gemälde des Künstlers Stefan Garwatowski, der den zerschossenen Ort vor blutrotem Horizont zeigt. Eine ergreifende Installation, denn vor dem Bild verstreut liegen die traurigen Überbleibsel des Krieges: Gewehre, Blechkanister, Soldatenstiefel, Glieder einer Panzerkette, Flugzeugteile, Fahrzeugreifen.

Aus übrig gebliebenen Steinen wurde der Leuchtturm am Hafen gebaut, auf dem Fundament des einstigen Forts Münde. Die meisten Trümmersteine jedoch wurden zum Wiederaufbau von Danzig und Warschau fortgeschafft. 1950 zählte Kolberg nur 7000 Einwohner, die Stadt blieb noch Jahre später reine Militärzone, der Strand war für die Öffentlichkeit gesperrt. Zwar öffnete 1960 das erste Kurheim „Muszelka“, doch erst etliche Jahre später wurde ein Bebauungsplan für die ehemalige Altstadt entworfen und umgesetzt. Zahlreiche elfstöckige Wohnblocks entstanden.

Gäste finden hier alles, was sie brauchen

Ein wenig Altstadt. Versuchte Rekonstruktion in der Duboisstraße.
Ein wenig Altstadt. Versuchte Rekonstruktion in der Duboisstraße.
© Travel netto

Ab Mitte der siebziger Jahre kamen, als Altstadtersatz, einige kleinere Häuser in der Dubois Straße hinzu. „Rekonstruiert wurde nichts, man hat nur versucht, das Ursprüngliche irgendwie aufzunehmen“, sagt der Historiker Kroczynski. So übernahm man zwar das mittelalterliche Straßennetz, doch zwischen der neuen Bebauung fallen auch heute noch weite, freie Flächen auf, einige davon begrünt und bepflanzt, zu großen Plätzen mit Bänken und Brunnen gestaltet.

Und am Strand?1973 entstand an Stelle des einstigen Seestegs eine 220 Meter lange, neun Meter breite Seebrücke aus Stahlbeton. „Seit Jahren wird davon geredet, dass am Ende der Brücke Läden und ein Café entstehen sollen“, sagt Dagmara Bolda, Marketingexpertin im Arka Medical Spa Hotel. Passiert ist noch nichts. Anstelle des prunkvollen Strandschlosses entstand 1975 das klotzige Baltyk Hotel, das zur Zeit innen renoviert und äußerlich verschönert wird. Im Juni soll es wieder eröffnen. „Es ist das einzige Hotel in den Dünen, und es wird kein zweites in dieser Strandlage geben“, sagt Dagmara Bolda.

Auch das Wäldchen mit seinem alten Baumbestand, das sich parallel zwischen Küste und Kurpromenade erstreckt, bleibt geschützt. Schmale, gewundene Pfade durchziehen es, zum gemütlichen Radeln oder Joggen. Zahlreiche Kurgäste beherzigen offenbar die Anweisungen ihrer Ärzte: Mehr Bewegung tut gut! Auf der Promenade, am Strand und sogar im Wäldchen sind erstaunlich viele Nordic Walker unterwegs.

Fast alle Hotels und Kureinrichtungen befinden sich direkt an der Promenade oder in den angrenzenden Seitenstraßen. Die eine oder andere Villa im Bäderstil ist erhalten geblieben, wie etwa das ansehnliche Hotel Maxymilian. Am östlichen Rand der Promenade sind riesige Hotels gewachsen wie das Arka Medical Spa mit seinen 400 Zimmern, das Marine, Baltic Park oder Ikar Plaza. Moderne Gesundheitstempel, die auch ärztliche Betreuung und viele Behandlungen bieten, aber erheblich günstiger als in Deutschland sind.

„Man findet hier alles, was man braucht“, sagt Gästebetreuerin Dominika Koscielny. „Einen Strand, die Promenade, Einkaufsmöglichkeiten, Mooranwendungen, Bäder, die gute salzige Luft für die Atemwege.“ In der Tat gibt es zahlreiche Souvenirshops und Schmuckläden, in denen vor allem Bernstein feilgeboten wird, doch anspruchsvolle Geschäfte, auch Modeboutiquen mit hochwertigen Angeboten, sind rar. An der Promenade wirbt der Shop „Puszysta Pani“ („Mollige Frau“) mit Röcken und Blusen im fraulichen 80er-Jahre-Look.

Vom Café Widokówka aus, im 12. Stock des Kurhauses Perla Baltyku, blickt man weit übers Meer. Im Arka Spa gibt's in der obersten Etage sogar ein Drehcafé wie auf dem Ostberliner Fernsehturm. Wer's statt modern und ein wenig zu schrill beschallt lieber urgemütlich mag landet im Molas Beach. Seit zehn Jahren gibt es die urige Strandbaude, vollgestopft mit Fischernetzen Angelruten, Piratenköpfen und – Fußballdevotionalien. Eine Fahne vom FC Carl Zeiss Jena baumelt von der Decke, ein Banner vom AC Milan konkurriert mit einem von Legia Warszawa oder Hannover 96. Sogar ein Fanschal von Hertha BSC ist zu sehen. „Als wir hier anfingen, gab es die großen Hotels noch gar nicht“, erzählt Magda. Ob Molas Beach hier bleiben kann? Magda kann es nur hoffen. Ausgewiesene Baugründe für neue Hotels sind schon bedrohlich nah gerückt.

Das faire Preis-Leistungsverhältnis wird gelobt

Nachkriegsmodell – 1948 errichtet auf dem einstigen Fort Münde.
Nachkriegsmodell – 1948 errichtet auf dem einstigen Fort Münde.
© Klaus Klöppel

Jetzt, am Abend, färbt sich der Himmel blutrot. Ein einsamer Läufer joggt, ein Pärchen schlendert vorüber, ein Mann befestigt seine Kamera auf einem Stativ. Die meisten Gäste aber sitzen um diese Zeit in ihren Hotels beim Abendessen. Viele Urlauber buchen Halbpension.

Dabei macht es viel mehr Spaß, die schmackhafte Kolberger Küche in einem Restaurant zu probieren. Frischen Fisch gibt es, Wildgerichte und natürlich die regionalen Spezialitäten wie Bigos oder Piroggen. In den kleinen Lokalen rund um den Leuchtturm könnte man einkehren, und dabei den dümpelnden, bunten Kuttern im Hafen zusehen. Oder man speist im urig eingerichteten, auf Alt getrimmten Domek Kata (Henkerhaus), erbaut 2004, in der „neuen Altstadt“.

Vom Kurviertel aus ist man zu Fuß binnen einer Viertelstunde da. Tagsüber werden Führungen zu den wenigen Sehenswürdigkeiten im zerstörten Zentrum angeboten. Lediglich der Pulverturm hat die Kämpfe überdauert, das Rathaus, erbaut nach einem Schinkel-Entwurf, wurde wie der Wasserturm und ein Patrizierhaus wieder an Ort und Stelle gesetzt. Zuallererst hatte man sich allerdings um den Wiederaufbau der fünfschiffigen Basilika bemüht, die bis zu 9000 Menschen Platz bietet. Ein gigantischer Backsteinbau. Die Kirche war 1945 ausgebrannt, doch hatten Bewohner wertvolle Figuren und Gemälde rechtzeitig verstecken können. Heute sind sie wieder an ihren angestammten Plätzen, genau wie der vier Meter hohe siebenarmige Leuchter. Auseinandergeschraubt hatte er die Kriegstage in einem unterirdischen Kirchengewölbe überstanden.

Im Kurviertel verblasst Kolbergs traurige Geschichte. Sole-Bäder, Mooranwendungen und Massagen bestimmen den Tagesablauf der meisten Urlauber. Was sie an Kolberg mögen? „Die Ostsee und den breiten, feinsandigen Strand“, sagt ein Ehepaar aus Leipzig. Und natürlich: das gute Preis-Leistungsverhältnis. Im „Vital Center“ beispielsweise kostet eine 50-minütige Massage 25 Euro – und sie ist ausgesprochen gut.

Im Sommer verwandelt sich Kolberg in ein quirliges pickepackevolles Ostseebad. Dann wird’s selbst den Schwänen zu trubelig, die jetzt noch majestätisch am Strand entlang tapsen. Die Kolberger hegen und pflegen sie, „auch im Mittelalter waren schon welche da“, sagt der Historiker Kroczynski, „wir haben sie sogar auf unserem Stadtwappen.“ Auf den Bänken der Promenade sitzen Urlauber, genießen die Sonne und bewundern die vielen bunten Tulpen. Es ist, als habe Kolberg endlich seinen Frieden gefunden.

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