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Judith Butler
© picture alliance / dpa

Judith Butlers "Am Scheideweg": Die Philosophin und die Kritik des Zionismus

Für die Philosophin Judith Butler gehört Widerstand gegen staatliche Gewalt zur jüdischen Tradition. So schreibt sie es in ihrem neuen Buch "Am Scheideweg" - und fordert eine neue jüdische Ethik.

Als die amerikanische Philosophin Judith Butler im vergangen Jahr den prestigereichen Adorno-Preis verliehen bekam, gab es nicht nur Applaus. Von den einen für ihre einflussreichen Studien zur Konstruktion von Geschlechtsidentität verehrt, wurde sie von den anderen des Israel-Hasses und des Antisemitismus beschuldigt. Stein des Anstoßes war eine Äußerung Butlers vor Jahren, als sie Hamas und Hisbollah als „Teil der globalen Linken“ bezeichnet hatte. Dass sie sich von jeder Form der Gewalt wiederholt abgrenzte, ihre moralphilosophischen Texte vielmehr um die Gefährdung und Verletzbarkeit menschlichen Lebens kreisen, half ihr wenig.

Während sich die Debatten in den Feuilletons warmliefen und der Preis in der Paulskirche schließlich überreicht wurde, erschien in den USA Judith Butlers neuestes Buch, „Parting Ways“. Nun ist es unter dem Titel „Am Scheideweg. Judentum und die Kritik des Zionismus“ auch in deutscher Übersetzung erschienen und liest sich wie ein nachgereichter Kommentar zu jenem Thema, über das letztes Jahr so laut gestritten wurde. Kompromisslos ist Butler hier nur in einem Punkt: „dass sämtliche Formen des Antisemitismus und sonstiger Rassismen absolut unannehmbar sind.“ Alles andere – Israel, Palästina und den (Anti-)Zionismus – will sie jedoch zur Verhandlungsmasse machen, um eine „neue politische Kartografie“ des Nahostkonflikts zu entwerfen.

Butler argumentiert, dass eine Kritik an Israels Besatzungs- und Siedlungspolitik aufgrund jener jüdischen Tradition geboten ist, die den „Widerstand gegen staatliche Gewalt und koloniale Vertreibung und Beherrschung“ ausdrücklich verlange. Dafür beruft sie sich auf Emmanuel Lévinas, Walter Benjamin, Hannah Arendt und Primo Levi. Indem sie sich auch auf den palästinensischen Kulturwissenschaftler Edward Said sowie den Dichter Mahmud Darwish bezieht, sucht sie nach dem verbindenden Element beider Traditionen. Mit der Vision einer „post-nationalen Politik“ entwickelt Butler eine Ethik, die in der von Israelis und Palästinensern geteilten Erfahrung von Vertreibung und Exil wurzelt.

Seit ihrer frühen Studie „Das Unbehagen der Geschlechter“ gilt Butler als Denkerin der Subjektkritik: „Mann“ und „Frau“ sind keine fixen Kategorien, vielmehr entstehen diese Geschlechtsidentitäten erst durch wiederholte Akte, die kulturell und historisch geprägt sind. Anders als häufig kritisiert wurde, will Butler die Identität eines Subjekts damit nicht über Bord werfen, sondern ihre Offenheit betonen. Diese zeigt sich vor allem in unserer Verletzbarkeit, wie sie nun in ihrem Buch erneut hervorhebt. Eine Person ist niemals in sich abgeschlossen, sondern konstituiert sich erst im „Antlitz“ des Anderen. Der Andere, in dem ich mich spiegele, zerreißt meine vermeintliche Autonomie: „Ein Gesicht sehen, heißt bereits hören: ‚Du sollst nicht töten’“, wie Lévinas schreibt. Weil der Mensch darauf angewiesen ist, von einem Gegenüber adressiert zu werden, weil dieser Andere immer schon Teil meiner selbst ist, erwächst die ethische Verpflichtung, einander zu schützen.

Butler überträgt dies nun auf Israel und Palästina, die einander – geografisch und politisch – ins Antlitz blicken. Kein Mensch und keine Nation könne die Erde allein für sich beanspruchen: „Ungewollte Nähe und nicht gewählte Kohabitation sind (...) Vorbedingungen unserer politischen Existenz“. Die Vertreibung der Palästinenser sei jener Konstruktionsfehler der Staatsgründung Israels, der bis heute eine fatale „Gesichtslosigkeit“ zeitige: Wie solle man „die Verpflichtung durch den Anderen“ denken, wenn ein militärisch und durch Mauern erzwungenes „Getrenntleben“ buchstäblich verhindert, einander zu sehen?

Gerade die Verletzungen auf beiden Seiten, die Verwicklung von Israelis und Palästinensern in eine lange Geschichte gegenseitiger Angriffe, begreift Butler jedoch als Chance. Zum Kronzeugen wird ihr dafür, im Anschluss an Edward Said, die Gestalt Moses, der „gar keinen gelebten Unterschied zwischen Araber und Jude kennt“. Der Ägypter Moses erinnere daran, dass das Judentum „ohne dieses definierende arabische Element unmöglich ist“. Als Flüchtlingsfigur stehe er für eben jene „Menschen in Not, die Enteigneten und Vertriebenen, mit denen das diasporische Judentum eine ethische Solidarität verbindet“. Statt sich ausschließlich als jüdischer Staat zu definieren, argumentiert Butler, müsse Israel in einen Bezug zum Nicht-Jüdischen treten und „eine Rückwendung des Diaspora-Gedankens auf Palästina“ praktizieren.

Als Maßstab politischer Philosophie gilt meist die Maxime: Was philosophisch hergeleitet wird, soll politisch auch anwendbar sein. Das offensichtlichste Argument gegen Butlers Buch liegt in dem Vorwurf der Schöngeistigkeit, der Ignoranz von „Realpolitik“. In der Tat mag Butlers Utopie eines Binationalismus, der „in einen Staat ohne jede Diskriminierung auf der Basis von Ethnizität, Rasse und Religion“ mündet, naiv klingen. Fraglich ist auch, ob die von Butler propagierten Boykottmaßnahmen von israelischen Waren und Institutionen – denen sie Bündnisse mit Friedensaktivisten entgegensetzt – an die Komplexität ihrer ethischen Überlegungen heranreichen.

Butler selbst nimmt diese Kritik vorweg, wenn sie schreibt, auch der Pazifismus gelte gemeinhin als „impraktikabel“. Doch: „Würden wir wirklich in einer Welt ohne Pazifisten leben wollen? Was für eine Welt wäre das?“ Butlers Überlegungen zu Israel/Palästina scheitern nur dann, wenn Philosophie und Politik monolithisch als zwei getrennte Sphären begriffen werden. Dabei sind auch sie ineinander verwickelt: Jede Verfassung ist ein handfester Beweis für das philosophische Fundament unserer Gesetze. Zeigt das nicht „ganz unmittelbar“, schreibt Butler, dass unsere politische Realität ohne philosophisches Sprechen nicht auskommt: „dass Handeln im Denken angelegt ist?“

- Judith Butler: Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus. Aus dem Englischen von Reiner Ansén. Frankfurt am Main/New York: Campus 2013. 277 S., 28,90 Euro.

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