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Mit rhetorischer Wucht prägte Rudi Dutschke die Studentenbewegung. Das gegen ihn am 11. April 1968 verübte Attentat hatte eine Radikalisierung des Protests zur Folge – und es war der Anfang vom Ende der Studentenbewegung, denn viele wandten sich in den folgenden Monaten ab.
© Bundesstiftung Aufarbeitung/Klaus Mehner

Frühjahr 1968: Die Pflicht des Revolutionärs

Der Vietnamkongress jährte sich am 17. Januar 2018 zum 50. Mal – und im April 1968 wurde Rudi Dutschke angeschossen.

Der Spiegel setzte am 11. Dezember 1967 ein düsteres Porträt Rudi Dutschkes mit der Balkenunterschrift „Revolutionär Dutschke“ auf sein Titelblatt und charakterisierte ihn im Innenteil des Nachrichtenmagazins: „Die bleiche Stirn vom nachtschwarzen Schopf überflattert, das Kinn von Stoppeln verschattet, die dunklen Augen unter buschigen Brauen ekstatisch entflammt, den tief in die hageren Wangen eingekerbten Mund aufgerissen zu angestrengter Artikulation: Rudi Dutschke, redend. Die Revolution trägt Pullover, grob die Masche, grell das Muster. Farbige Streifen über Brust und Bizeps künden vom Querliegen des Rebellen. Die Ärmel sind hochgekrempelt in Pack-an-Manier. Der Oberkörper pendelt, die Rede skandierend, vor und zurück. Die Faust liegt, Daumen emporgereckt, geballt auf dem Tisch. Die Unterarme sind raumgreifend abgewinkelt, wie es die Choreographie einer Arbeiterkantate verlangt.“

Der 27-jährige Soziologiestudent der Freien Universität, so hieß es im Spiegel, beschäftige seit Monaten die Leitartikelschreiber der Bundesrepublik. Für die Süddeutsche Zeitung sei er ein „antiautoritärer Anarchist“, für DIE ZEIT ein „ideologischer Wunderprediger", für die B.Z. ein „Chef-Revoluzzer“ mit „Menschenverächter-Komplex“ und „unser Rudi“ für Tausende seiner Anhänger im studentischen Milieu.

In der gleichen Ausgabe reagierte der Herausgeber des Spiegel, Rudolf Augstein, mit einem eigenen Leitartikel auf Dutschke, dem er eine „unscharfe Ausdrucksweise“ und einen „Mangel an Denken“ vorwarf. Augstein unterstellte die Auffassung, „die deutschen Studenten haben, weil privilegiert, das Recht, revolutionär für das deutsche Volk zu handeln“, dem sie jedoch gar nicht sagen könnten, „was los ist“.

Augsteins missgünstige Philippika gegen Dutschke hatte eine Vorgeschichte. Zwei Wochen zuvor hatte der Spiegel-Herausgeber auf einer Diskussionsveranstaltung in der Hamburger Universität vergeblich versucht, Dutschke Paroli zu bieten. Während der nicht mehr ganz nüchterne Herausgeber stockend skeptische Anmerkungen gegen die studentische Linke vorbrachte, trug Dutschke seine Revolutionsrhetorik in endlosen und komplizierten Schachtelsätzen vor, die er mit nur kurzen Blicken auf seinen Notizblock leichthin vortrug. Die revolutionäre Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse sei ein langer Prozess, argumentierte Dutschke, zu dem die aufgeklärten Teile der Studentenschaft derzeit als kleine Minderheit allenfalls vorrevolutionäre Überzeugungsarbeit leisten könnten. Vor einigen Jahren hätten nur einige wenige so gedacht, nun seien es bereits mehrere Tausend.

Delegationen der Neuen Linken aus ganz Europa kamen nach West-Berlin

Am 17. Februar 1968, heute vor 50 Jahren, tagte im Auditorium Maximum der Technischen Universität Berlin der „Internationale Vietnamkongress“, den Rudi Dutschke maßgeblich mitorganisiert hatte. Den Aufruf zu dieser Großveranstaltung hatten der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), der Sozialdemokratische Hochschulbund (SHB), die Gewerkschaftliche Studentengruppe (GSG) und die Humanistische Studentenunion (HSU) gemeinsam unterzeichnet.

Zu dem Kongress trafen in West-Berlin Delegationen der Neuen Linken aus ganz Europa ein. Über dem Podium des Kongresses prangte eine riesige Vietcong-Fahne mit der Losung „Für den Sieg der vietnamesischen Revolution. Die Pflicht des Revolutionärs ist es, Revolution zu machen“. Die Veranstaltung war straff durchorganisiert, Redebeiträge und Grußadressen prominenter Linker wechselten sich ab, unter anderem von Günther Anders, Fritz J. Raddatz, Luigi Nono, Gerd und Susanne von Paczensky, Gerhard Zwerenz, Reinhard Lettau, Hans-Magnus Enzensberger, Herbert Marcuse, Wolfgang Abendroth, Alberto Moravia, Luchino Visconti, Bertrand Russel, Renate Riemeck, Ernst Bloch, André Gorz, Claude Bourdet, und Pierre Paolo Pasolini.

Rudi Dutschke, der in der Hamburger Diskussion auf Augsteins Frage, was er denn an konkreten nächsten Schritten im Sinn habe, noch ausweichend geantwortet hatte, machte nun auf dem Vietnamkongress in aufgeheizter Stimmung radikale Aktionsvorschläge. In seinem sorgfältig vorbereiteten Redebeitrag mit dem Titel „Die geschichtlichen Bedingungen für den internationalen Emanzipationskampf“ rief er zu direkten Aktionen in den Metropolen auf: „An jedem Ort der Bundesrepublik ist diese Auseinandersetzung in radikaler Form möglich. Es hängt von unseren schöpferischen Fähigkeiten ab, kühn und entschlossen die sichtbaren und unmittelbaren Widersprüche zu vertiefen und zu politisieren, Aktionen zu wagen, kühn und allseitig die Initiative der Massen zu entfalten. Die wirkliche revolutionäre Solidarität mit der vietnamesischen Revolution besteht in der aktuellen Schwächung und der prozessualen Umwälzung der Zentren des Imperialismus.“

Bürgermeister Klaus Schütz sprach den Schutzmächten das Vertrauen aus

Am 18. Februar 1968 zogen 15 000 überwiegend junge Leute unter roten und Vietcong-Fahnen durch West-Berlin. Rudi Dutschke stand nun erst recht im Zentrum der Medienberichterstattung und öffentlicher Anfeindungen. Zwei Tage nach der großen Demonstration gegen den Vietnamkrieg erschien in der Zeitung B.Z. ein von zahlreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unterzeichneter Apell „Berlin steht für Freiheit und Frieden – wir wollen sagen, wofür wir sind!“ Die Unterzeichner forderten die „Bevölkerung des freien Berlin“ auf, am kommenden Tag um 16.30 Uhr vor dem Schöneberger Rathaus „die wirkliche Meinung der Berliner" zu zeigen und zu demonstrieren: „für die parlamentarische Demokratie – gegen Rätediktatur, Linksfaschismus und Rechtsfaschismus – für die Freiheit in gesetzlicher Ordnung – gegen Straßenterror und Anarchie“.

Am folgenden Tag veröffentlichten die Berliner Tageszeitungen auf der ersten Seite einen gemeinsamen Aufruf des Senats von Berlin, des Abgeordnetenhauses, der im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien, des Deutschen Gewerkschaftsbundes (Berlin) und des Ringes politischer Jugend Berlin zur Teilnahme an der Kundgebung vor dem Rathaus Schöneberg.

Rund 80 000 Berlinerinnen und Berliner kamen dem Aufruf nach und fanden sich auf dem John-F.-Kennedy-Platz ein. Der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) sprach in seiner Rede den drei Schutzmächten das Vertrauen aus und erklärte, die Amerikaner seien zwar in Vietnam in einen tragischen Krieg verstrickt, in Berlin jedoch stünden sie für den Erhalt der Freiheit. Wer das Sterben in Vietnam beenden wolle, dürfe nicht so viel von Hass und Krieg reden, wie es gerade in Berlin auf dem Vietnamkongress geschehen sei, sondern müsse Verständigung und Frieden fordern. Teilnehmer der Kundgebung trugen Transparente mit Aufschriften wie „Freiheit für die Zone“, „Gegen Krieg wo auch immer“, „Dutschke Volksfeind Nummer eins“, „Dutschke raus aus West-Berlin“.

Sieben Wochen später am 11. April 1968 schoss ein rechtsradikaler Jungarbeiter auf dem Kurfürstendamm Rudi Dutschke nieder. Er starb elfeinhalb Jahre später, Weihnachten 1979, an den Spätfolgen der dabei erlittenen schweren Hirnverletzungen. Das Attentat löste 1968 eine extreme Radikalisierung der Jugend- und Studentenbewegung aus, die zugleich der Anfang von ihrem Ende war.

Der Autor ist promovierter Germanist und Projektleiter im Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin.

Jochen Staadt

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