Chronobiologe zur dauerhaften Sommerzeit: "Die Menschen werden spüren, dass es ihnen nicht gut geht"
Kommt mit der Abschaffung der Zeitumstellung die endlose Sommerzeit? Das würde die Menschen krank machen, warnt der Chronobiologe Roenneberg. Ein Interview.
Professor Roenneberg, was haben Sie gedacht, als das EU-Parlament am Dienstag für die Abschaffung der Zeitumstellung gestimmt hat?
Damit habe ich gerechnet. Nur welche Art von Abschaffung, das ist bisher nicht geklärt. Es bleibt also noch Zeit, die Politik von der Unsinnigkeit der dauernden Sommerzeit zu überzeugen. Obwohl ich mittlerweile dafür bin, dass Deutschland die Sommerzeit einführt.
Warum denn das?
Einfach weil die Menschen offenbar am eigenen Leib spüren müssen, welche Folgen die Einführung der ganzjährigen Sommerzeit hat, damit sie es verstehen. Russland hat das fast vier Jahre lang versucht. Der Versuch ging nach hinten los: Viele Menschen waren überrascht, dass die Sonne im Winter erst um zehn Uhr aufging, die Leute waren müde und fühlten sich schlecht. Danach entschied man sich, die Sommerzeit wieder abzuschaffen und ist nun zur dauernden Normal- oder Standardzeit übergegangen. Das bisher einzige Experiment auf Bevölkerungsebene zur Einführung der immerwährenden Sommerzeit ist also gescheitert.
Warum waren die Menschen so müde?
Eine Forschergruppe um Mikhail Borisenkov konnte zeigen, dass der soziale Jetlag zunahm. Sozialer Jetlag ist, wenn biologische und soziale Zeit immer weiter auseinanderklaffen. Die Körperuhr stellt sich über das Licht ein. Da wir tagsüber nie mehr richtig Licht bekommen und vor allem durch das viele künstliche Licht am Abend stellt sich die innere Uhr heute bei den meisten Menschen deutlich später als zu Zeiten, zu denen es noch keine Elektrizität gab.
Zu diesen Zeiten lag die Schlafmitte bei den meisten wahrscheinlich etwa um ein Uhr. Wenn sie acht Stunden Schlaf brauchten, sind sie um neun Uhr abends eingeschlafen und um fünf aufgewacht. Mittlerweile hat die industrielle Bevölkerung eine Schlafmitte von vier Uhr - drei Stunden später. Die sozialen Zeiten sind aber nicht drei Stunden mit nach hinten gewandert. Viele müssen immer noch um sechs Uhr aufstehen, um in die Schule oder auf Arbeit zu gehen. Deshalb brauchen die allermeisten einen Wecker. Sobald Sie den zum Aufstehen brauchen, wissen Sie, dass die Körperuhr nicht mehr mit der sozialen Uhr übereinstimmt. Sie leben dann im sozialen Jetlag.
Welche Konsequenzen hat das?
Um das zu verstehen, muss man die soziale Uhr verstehen. Sie war früher gleichbedeutend mit der Sonnenuhr. Mittag war, wenn die Sonne am höchsten stand. Dann haben wir die Zeitzonen eingeführt. Wenn die Uhr nun zwölf zeigte, stimmte das eigentlich nur noch auf dem Längengrad in der Mitte der jeweiligen Zeitzone. Und dann haben wir die Zeitzonen auch noch vergrößert, etwa weil Franco in derselben Zeitzone wie Hitler leben wollte. Man sagt immer, die Spanier essen spät. Aber wenn sie im Sommer um zehn Uhr abends essen, ist es nach Sonnen-Zeit eigentlich erst 19.30 Uhr. Der soziale Jetlag steigt innerhalb einer Zeitzone also von Ost nach West. Und das führt zu Problemen. Drei unabhängige Studien haben gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit sämtlicher Krankheiten, die man bisher untersucht hat, von der östlichen zur westlichen Grenze einer Zeitzone größer wird.
Was hat das mit der Einführung der Sommerzeit in Deutschland zu tun?
Durch die Sommerzeit, im Wechsel oder ganzjährig, klaffen die soziale und die Sonnen-Uhr noch weiter auseinander. Mit jedem Wechsel zur Sommerzeit werden wir ja einer Zeitzone weiter östlich zugeordnet. Das heißt, wir rücken sozusagen relativ zum Ostrand unserer Zeitzone weiter nach Westen. Bei der dauernden Sommerzeit wäre das dann ganzjährig der Fall. Und je westlicher man in einer Zeitzone lebt, desto stärker die Folgen für die Gesundheit.
Welchen Folgen sind das konkret?
Das Risiko, an verschiedenen Krebsarten zu erkranken, nimmt innerhalb einer Zeitzone von Ost nach West zu. Das zeigen drei große Studien (hier, hier und hier) aus den USA und Russland, die auch Daten aus China, das ja nur eine Zeitzone hat, analysieren. Bei Männern sind das Magen-, Leber- und Prostatakrebs, bei Frauen Brust-, Darm-, Speiseröhren-, Lungen- und Gebärmutterkrebs. Das Risiko für chronische lymphatische Leukämie war bei beiden Geschlechtern erhöht.
Außerdem gibt es mehr als dreißig weitere Studien, die belegen, dass sozialer Jetlag zu Schlafstörungen, Depressionen und Stoffwechselstörungen führt, etwa Fettleibigkeit und Diabetes. Mit jeder Stunde sozialem Jetlag verdreifacht sich das Risiko, an Stoffwechselsyndromen zu erkranken. Man muss diese chronischen Folgen von den akuten unterscheiden, die nach Umstellung auf Sommerzeit jedes Jahr auftreten. Die Herzinfarktraten gehen deutlich nach oben und es kommt häufiger zu Schwangerschaftsabgängen. Allein deshalb müsste man die Zeitumstellung abschaffen, aber diese akuten Folgen sind auf Bevölkerungsebene nicht so folgenreich wie die eben genannten chronischen, die eine ganzjährige Sommerzeit zur Folge hätte.
Welche Mechanismen führen zu diesen chronischen Erkrankungen?
Das ist noch nicht ganz klar. Die innere Uhr hat sich über Jahrmillionen zu einem optimalen Dirigenten des Tagesablaufs auf biologischer und auf Verhaltensebene entwickelt. Wenn man da auch nur etwas leicht verstellt, bekommt man Probleme. Forschungsergebnisse zeigen: Wenn man den Schlaf-Wach-Rhythmus von der inneren Uhr entkoppelt, ändern sich Stoffwechselparameter rasch auf ähnliche Werte, wie man sie bei einem metabolischen Syndrom findet. Die Mechanismen dahinter sind komplex. Aber man kann man die richtigen Schlüsse auch ziehen, ohne bis ins letzte Detail zu wissen, welche Gene dabei angeschaltet werden und über welche Rezeptoren das läuft.
Wie schnell nach Einführung der Sommerzeit würden diese chronischen Krankheiten auftreten?
Es ist ähnlich wie mit dem Rauchen. Es bringt einen zunächst nicht um. Aber mit dem sozialen Jetlag steigt die Wahrscheinlichkeit, an Krebs, Stoffwechselleiden und Depressionen zu erkranken. Solche chronischen Folgen sind den Menschen natürlich nicht gegenwärtig, sie denken bei Sommerzeit nur an Grillabende und warme Nächte. Aber wir haben all diese Daten, und sie weisen alle in dieselbe Richtung. Die Studien reichen aus um zu sagen: Wir sollten uns gegen eine ganzjährige Sommerzeit und für eine ganzjährige Normalzeit entscheiden.
Wenn die spanische Zeitzone so ungesund ist: Warum ist in Spanien die Lebenserwartung höher als in Deutschland?
Erstens weil die Spanier die soziale Zeit ignorieren. Wenn die um 10 Uhr abends essen gehen, ist es nach Sonnenzeit erst 7:30 Uhr im Sommer. Außerdem gibt es über die Krankheit-Inzidenzen in der EU Zeitzone noch keine Studien. Drittens haben wir mit sehr unterschiedlichen Kulturen zu tun. Die Studien, die uns zeigen, wie sich Krankheitsstatistiken innerhalb von Zeitzonen verhalten, kommen aus Russland und den USA, also relative homogenen Kulturen.
Nun sagte Gesundheitsminister Jens Spahn, er könne sich zwölf Monate Sommerzeit „ gut vorstellen“. Ähnlich hat sich Wirtschaftsminister Peter Altmaier geäußert. Begründet haben das die Minister auch mit persönlichen Präferenzen.
Das ist irre, Hedonismus pur. Das hat nichts mit Wissenschaft zu tun. Das Vorgehen erinnert mich an die Politik von Trump. Das ist genauso, wie wenn man zum Thema Klimawandel sagt: „Ist doch schön, wenn wir wärmere Sommer haben.“ Viele Politiker denken offenbar, es geht hier um Lifestyle. Es geht aber um die Gesundheit der Bevölkerung.
Bei der EU-Umfrage vergangenes Jahr hat sich die Mehrheit der Teilnehmer ebenfalls für die Sommerzeit ausgesprochen.
Die EU hat die Leute sinngemäß gefragt: Wollen Sie lieber ganzjährigen Sommer oder ganzjährigen Winter? Wer würde da nicht „ganzjährigen Sommer“ antworten? Deshalb ist schon der Begriff „Winterzeit“ problematisch. Es ist die Normal- oder Standardzeit. Außerdem wäre im Winter – wenn die Menschen ihre Kinder im Dunkeln zur Schule bringen müssen – das Ergebnis wahrscheinlich anders ausgefallen. Jean-Claude Juncker hat sich heftig über den Brexit aufgeregt. Aber mit der schlecht geplanten EU-Umfrage und seiner völlig unausgegorenen Tendenz für die ewige Sommerzeit hat er nichts anderes als den Brexit auf Uhrenebene angestoßen, den „Cloxit“ sozusagen. Und als Begründung beruft man sich nun auf eine schlecht gemachte und vollkommen unrepräsentative Umfrage.
Die meisten Menschen schätzen offenbar die Sommerzeit, weil sie abends mehr Zeit für Freizeit, Freunde und Familie im Hellen haben. Wiegt die persönliche Zufriedenheit nicht die biologischen Nachteile der Sommerzeit auf?
Rauchen macht dem Raucher Spaß, wiegt da die Zufriedenheit die Gesundheit auch auf?
Ein oft vorgebrachtes Argument ist, man gewöhne ja auch an die neue Zeit, wenn Urlaub in einer anderen Zeitzone macht.
Da gewöhnt man sich nicht an eine neue Zeit, sondern lebt in einer neuen Zeit, einem neuen Licht-Dunkel-Wechsel. Bei dauerhafter Sommerzeit allerdings bleibt man in demselben Tag-Nacht-Wechsel, steht aber dauerhaft früher auf, als es einem die innere Uhr sagt.
Stimmt es, dass das Schülerinnen und Schüler besonders beeinträchtigen würde?
Die innere Uhr von Jugendlichen ist aus biologischen Gründen viel später dran als die von Kindern und älteren Erwachsenen. Das ist auch so in Kulturen, die ohne Elektrizität leben, ohne Smartphones oder Tablets. Wenn es dann früh länger dunkel bleibt, verspätet sich die innere Uhr noch mehr. Somit kriegen die Schüler noch weniger Schlaf, um das Gelernte zu festigen, und in der Schule bekommen sie vor Müdigkeit noch weniger mit. Wir konnten in Studien zeigen, dass Schüler, die späte Chronotypen sind, schlechtere Abiturnoten haben, dies aber nicht mehr zutrifft, wenn sie in der Universität sind, wo sie in der Regel früh um acht keine Klausuren schreiben müssen. Schon die Zeiten, zu denen die Schule aktuell beginnt, sind ein Unding. Und alle Daten deuten darauf hin: Bei einer dauernden Sommerzeit werden die Leistungen vieler Schüler sich weiter verschlechtern. Dasselbe gilt für die wirtschaftliche Produktivität und akademische Leistungen.
Wäre es denn theoretisch besser, bei der noch gültigen Zeitumstellung zu bleiben?
Die Zeitumstellung ist der Regen, ganzjährige Sommerzeit die Traufe. Wir brauchen dauernde Standardzeit mit Neueinteilung der Zeitzonen. Wir müssen auf Basis wissenschaftlicher Fakten auf eine gesunde Bevölkerung hinarbeiten. Die ist fröhlicher, produktiver und billiger.
Ihren Ausführungen zufolge wäre eine Zeitzonengrenze mitten in Europa am sinnvollsten, um möglichst nah an unserer natürlichen Zeit zu bleiben. Dann hätte Deutschland aber eine andere Zeitzone als Frankreich und die Benelux-Staaten.
Das macht doch nichts. Die USA funktionieren kulturell und ökonomisch seit mehr als hundert Jahren mit vier Zeitzonen. Die Zeitgrenzen gehen sogar durch einzelne Bundesstaaten. Das Gerede, das sei nicht möglich, ist Quatsch. Und in Europa bräuchten wir nicht einmal Zeitzonengrenzen innerhalb von Staaten. Die sinnvollsten Zeitgrenzen liegen fast alle auf den Landesgrenzen.
Sehr viele Menschen arbeiten tagsüber bei Kunstlicht, haben also keine Sonneneinstrahlung. Ist das Licht möglicherweise nicht so wichtig, wie Sie meinen?
Wenn man die Schlafzeiten an arbeitsfreien Tagen in der europäischen Zeitzone untersucht, findet man, dass sie etwa vier Minuten pro Längengrad von Osten nach Westen später werden. Das entspricht der Zeit, die die Sonne braucht, um einen Längengrad zu durchqueren. Diese Ergebnisse zeigen, dass die Sonnenuhr auch im industriellen Zeitalter eine wichtige Rolle bei der Einstellung der biologischen Uhr spielt.
Wie ist Ihre Prognose im Ringen um die richtige Zeit?
Schlimmstenfalls werden wir ein paar Jahre in der Traufe leben – also in der dauernden Sommerzeit. Aber danach ist Schluss, da bin ich mir ganz sicher. Die Menschen werden spüren, dass es ihnen nicht gut geht. Die Russen haben die Sommerzeit wieder abgeschafft, weil sie große Schwierigkeiten hatten, morgens rauszukommen. Sie wurden müder und depressiver, weil sie letztendlich weniger Licht bekamen und nicht mehr.
Am Sonntag steht die Umstellung auf die Sommerzeit erneut an. Wie kann man ungünstige Auswirkungen vermeiden?
Abends kein blaues Licht. Das heißt, auch wenn es hart klingt: Wenn man um 17 Uhr noch bei Tageslicht nach Hause kommt, sollte man nicht mehr rausgehen. Denn dadurch stellt sich die innere Uhr immer später. Das Licht sollte man sich lieber morgens holen. Klar muss man dann eher aufstehen. Aber das macht nichts, denn mit viel Licht am Morgen und kaum Licht am Abend geht man früher ins Bett und wacht früher auf, vielleicht sogar ohne Wecker.
Die Fragen stellte Florian Schumann
Till Roennebergs Buch „Das Recht auf Schlaf“ ist im dtv-Verlag erschienen.
So ist der Stand zur Abschaffung der Zeitumstellung
2021 werden in Europa die Uhren voraussichtlich zum letzten Mal umgestellt. Dafür stimmte am Dienstag das EU-Parlament in Straßburg. Dass auch die endgültige Entscheidung so lauten wird, gilt aber als sicher. Vor der abschließenden Entscheidung müssen sich erst die EU-Verkehrsminister auf eine gemeinsame Linie einigen. Anschließend müssen sie mit Unterhändlern des EU-Parlaments einen Kompromiss finden. Damit wird nicht vor Herbst 2019 gerechnet. Umstritten jedoch ist, welche Zeit dann gelten soll. Bei einer nicht repräsentativen EU-Umfrage im vergangenen Jahr hatte sich eine Mehrheit der Teilnehmer für ganzjährige Sommerzeit ausgesprochen. Nach dem Willen des EU-Parlaments soll jeder Mitgliedsstaat selbst entscheiden, welche Zeit er in zwei Jahren einführen will.
Die Bundesregierung hat noch keine offizielle Position dazu, ob in Deutschland künftig die Sommer- oder „Winterzeit“ gelten soll. Das Bundeswirtschaftsministerium teilte dem Tagesspiegel auf Anfrage mit, sich in Abstimmung mit den europäischen Partnern für eine möglichst einheitliche Lösung einzusetzen. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hatte sich bereits mehrfach für die ganzjährige Sommerzeit ausgesprochen.
Gefragt, ob mögliche gesundheitliche Folgen einer solchen Regelung in die Abwägung einbezogen würden, verweist das Wirtschaftsministerium auf einen Bericht von 2007, in dem die EU-Kommission zu dem Ergebnis kommt, „dass die Sommerzeitregelung angemessen ist“. Außerdem habe man das Bundesgesundheitsministerium (BMG) um eine Einschätzung gebeten. Ein Sprecher des BMG sagte dem Tagesspiegel, dem Ministerium lägen zu dem Thema keine wissenschaftlichen Untersuchungen vor. Man plane auch keine eigenen. Derzeit habe man keine Präferenz. Für das Thema sei das Bundeswirtschaftsministerium zuständig.
Till Roenneberg hatte 2018 einen Brief an Bundeskanzlerin Merkel geschrieben, in dem er vor den möglichen Folgen ganzjähriger Sommerzeit gewarnt hatte. Bis heute hat er keine Antwort erhalten. (fsch)