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Wer bei den Aufräumarbeiten nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl hoher Strahlung ausgesetzt war, trug Strahlenschäden davon. Aber im Erbgut der Nachkommen der Betroffenen ist die Mutationsrate nicht erhöht.
© imago/epd

Neue Studien zu Strahlenschäden: Die Kinder von Tschernobyl

Nach der Reaktor-Havarie in der Ukraine lösten strahlende Isotope tausende Tumore aus. Doch bei Nachkommen der Betroffenen fehlen diese Erbgutschäden.

Am 26. April 1986 explodierte der vierte Block des Kernreaktors in Tschernobyl in der heutigen Ukraine. Radioaktive Partikel machten mehr als 6000 Quadratkilometer Land langfristig unbewohnbar. Die dort Ansässigen waren einer relativ hohen Strahlenbelastung ausgesetzt, bevor sie evakuiert wurden, wie auch etwa 100 000 der 650 000 Liquidatoren, die die Havariefolgen beseitigten.

Das hatte für die Betroffenen gravierende Folgen, stellten der Krebsforscher Stephen Chanock von National Cancer Institute im US-amerikanischen Rockville und sein Team fest. In der Zeitschrift „Science“ berichten sie: Die von radioaktiven Jod-Isotopen ausgehende Strahlung verursachte im Erbgut „Doppelstrangbrüche“, was letztlich zu Genmutationen und zur Entstehung von Krebs, insgesamt rund 5000 Schilddrüsentumoren, führte.

Doch die Forscher:innen fanden auch heraus, dass die Betroffenen diese Mutationen nicht an ihre Kinder vererbt haben. Jedenfalls fanden sie in ihrem Erbgut nicht mehr Mutationen als beim Durchschnitt der Bevölkerung. Die Befürchtung, dass die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl auch die Gesundheit späterer Generationen beeinflusst, ist damit insoweit entkräftet.

In den vom Tschernobyl-Fallout betroffenen Gebieten in der heutigen Ukraine, in Belarus und in Russland fielen in diesen wenigen Tagen große Mengen des bei der Kernreaktion entstandenen radioaktiven Jod-131 vom Himmel. Dieses Element wird von der Schilddrüse aufgenommen, wo es weiter Strahlung abgibt. Diese Strahlung trifft auch auf die Erbgut-Moleküle im Zellkern der Zellen: Es besteht aus zwei umeinandergedrehten DNA-Strängen, der berühmten Doppelhelix. Dabei kann die starke radioaktive Strahlung beide Stränge des aus gut drei Milliarden Bausteinen bestehenden Erbguts einer menschlichen Zelle an etlichen Stellen komplett durchtrennen. Diese schweren Schäden reparieren die Zellen mit verschiedenen Mechanismen. In sich teilenden Zellen kann die „homologe Rekombination“ diese Aufgabe übernehmen, die praktisch fehlerfrei funktioniert.

Der größte Teil der Zellen aber teilt sich gerade nicht und muss auf einen anderen Reparaturmechanismus zurückgreifen: „Bei dieser nichthomologen Endverknüpfung können einige Fehler passieren“, sagt Michael Ensminger, der an der Technischen Universität Darmstadt genau solche Reparaturmechanismen im Erbgut untersucht. Da die abgetrennten Enden der beiden DNA-Ketten nicht an allen Stellen wieder zusammenpassen, schneidet der Mechanismus sehr wenige DNA-Bausteine ab und kann dann die Bruchstücke leicht wieder zusammenführen. Allerdings können diese wenigen fehlenden Bausteine, Mikrodeletionen genannt, die im Erbgut enthaltenen Geninformationen verändern und so in sehr seltenen Fällen die Entwicklung hin zu einer Tumorzelle anstoßen. „Wenn das radioaktive Jod sehr viele Doppelstrangbrüche auslöst, dann steigt auch das Risiko einer solchen Entwicklung“, sagt Ensminger.

Tatsächlich fanden Chanock und sein Team in Erbgutproben aus 359 Schilddrüsentumoren von Menschen, die als kleine Kinder in den ersten Tagen nach der Tschernobyl-Katastrophe das radioaktive Jod-131 aufnahmen und als junge Erwachsene Schilddrüsenkrebs entwickelten, ebendiese Mikrodeletionen. Je höher die Jod- und damit Strahlendosis war, umso mehr Spuren der Doppelstrangbrüche tauchen im Erbgut auf. Und umso höher war auch das Risiko der Entwicklung von Tumorzellen.

Kinder reagieren besonders empfindlich auf das radioaktive Jod. Tatsächlich waren rund zwei Drittel der bekannten rund 5000 Schilddrüsentumor-Patienten in den betroffenen Regionen zum Zeitpunkt der Reaktorkatastrophe jünger als fünf Jahre. Und genau in diesen Patienten fanden Chanock und seine Kollegen besonders viele Spuren der Doppelstrangbrüche. Immerhin lässt sich Schilddrüsenkrebs relativ gut operieren, sodass am Tumor oder an den Operationsfolgen weniger als 20 Patienten gestorben sein dürften.

Aber werden solche Mutationen vererbt? Wird auch das Erbgut der Keimzellen im Eierstock oder im Hoden von Jod oder anderen radioaktiven Isotopen beeinträchtigt? Um das herauszufinden, untersuchten Stephen Chanock und sein Team in einer weiteren Studie das Erbgut von 130 Kindern, deren Eltern als Liquidatoren, als Mitarbeiter im Kernkraftwerk oder zum Teil auch in den Fallout-Gebieten hohen Strahlungsdosen bis zu vier Gray in den Genitalorganen ausgesetzt waren. Alle diese Kinder waren nach der Reaktorkatastrophe gezeugt worden und kamen zwischen 1987 und 2002 zur Welt. Die Forscher:innen kommen zu dem Ergebnis: Keines der Kinder hatte von seinen Eltern mehr neue Mutationen geerbt, als im Durchschnitt der Bevölkerung an die nächste Generation weiter gegeben werden. Das ist ein durchaus überraschender Befund, denn bei solchen zum Teil sehr hohen Strahlungsdosen in den Genitalanlagen der Eltern muss mit Schäden im Erbgut der Ei- oder Samenzellen gerechnet werden. Vermutlich wurden einige Ei- und Samenzellen der Betroffenen durch die Strahlung auch beschädigt, aber vermutlich können sich Embryonen, die aus der Befruchtung mit derart geschädigten Keimzellen hervorgehen, „unter Umständen erst gar nicht in der Gebärmutter einnisten“, sagt Ensminger. „Oder die Embryonen sterben während ihrer Entwicklung ab.“

Ähnliche Mechanismen diskutieren Forscher auch für Säugetiere, die in den unbewohnbaren Gebieten um Tschernobyl durch den Fallout hohe Strahlungsdosen abbekamen. So konnten Wissenschaftler des Instituts für Agrarökologie und Biotechnologie in Kiew eineinhalb Jahre nach der Kernexplosion nur fünf Kilometer vom havarierten Reaktor entfernt vier Rinder einfangen, die der Evakuierung entkommen waren. Den auf den Namen „Uran“ getauften Stier und die drei Kühe „Alpha“, „Beta“ und „Gamma“ fütterten die Forscher mit radioaktiv belastetem Gras und Heu aus der Zehn-Kilometer-Zone rund um den Reaktor. 1990 gab es dann den ersten Nachwuchs und in der vierten Rindergeneration nach der Havarie waren im Erbgut praktisch keine Veränderungen mehr zu sehen. Offenbar sortiert die Natur das durch die radioaktive Strahlung fehlerhafte Erbgut rasch wieder aus.

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