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Rund 3700 Software-Firmen haben sich in Berlin angesiedelt und sind untereinander vernetzt. Ein wichtiger Hotspot liegt in Charlottenburg.
© Kinne und Axenbach 2018

Reindustrialisierung in Berlin: Die Industrie will mittendrin sein

Aktuelle Studien zeigen: Deutsche Metropolen werden wieder attraktiv für das verarbeitende Gewerbe.

Industrie in der Stadt? Das war einmal: Die Zeiten, in denen rauchende Schlote, Fabriken und Montagehallen das Stadtbild bestimmten, sind in Deutschland lange vorbei. Zwei Studien unter Beteiligung der Technischen Universität Berlin (TU) sagen jedoch das Gegenteil: Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass sich einige Metropolen – vor allem Berlin – in einem Prozess der Reindustrialisierung befinden. „Überraschenderweise ist die Zahl der Industrie-Gründungen in Berlin recht hoch: Zwischen 2012 und 2016 gab es jährlich über 250 Gründungen im Bereich verarbeitendes Gewerbe, fast genauso viele wie im Bereich Internetdienstleistungen und Informationstechnologie“, sagt Martin Gornig, Honorarprofessor an der TU Berlin und Forschungsdirektor Industriepolitik am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin).

Zusammen mit Professor Axel Werwatz, Professor für Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsrecht an der TU Berlin, veröffentlichte er 2018 eine Studie, die von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in Auftrag gegeben worden war. Ergebnis: Zwischen 2012 und 2016 wurden in großen deutschen Metropolen rund 40 Prozent mehr Betriebe im verarbeitenden Gewerbe gegründet als in den übrigen Regionen Deutschlands. Vor allem Berlin sticht hervor, aber auch München ist attraktiv für Gründungen. Wie erklärt sich das? Schließlich sind Industrieunternehmen in der Vergangenheit aus den Städten in die Peripherie gewandert, unter anderem wegen des Flächenbedarfs. Die neue, digitale Industrie sieht jedoch anders aus: Hier dominieren zum einen Hightech-Betriebe aus den Bereichen EDV, Pharmaindustrie oder Biotechnologie, zum anderen Low-Tech-Unternehmen, die mit Technologien wie 3D-Druck Produkte in Kleinserien produzieren. „Diese Unternehmen wollen in die Innenstadt, die brauchen keine großen Flächen im Gewerbegebiet“, sagt Gornig. Auch der Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften zieht die digitalisierte Industrie verstärkt in große Städte.

Unternehmen in der Nähe von Forschungseinrichtungen seien innovativer

Eine Einschätzung, die sich mit den Erkenntnissen von Knut Blind deckt: Der Professor am Institut für Technologie und Management der TU initiierte 2012 das „Berlin Innovation Panel“, eine jährliche Untersuchung, die sich am Mannheim Innovation Panel orientiert und von der Technologie-Stiftung Berlin finanziert wird. Zusammen mit Christian Rammer und Jan Kinne vom Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim veröffentlichte er 2017 die jüngsten Ergebnisse des Berlin Innovation Panels in der Studie „Microgeography of Innovation in the city“. Seit 2012 wurden dafür jährlich über 5000 Berliner Unternehmen aus den Bereichen Industrie und „unternehmensnahe Dienstleistungen“ auf ihre Innovationskraft untersucht. Dabei zeigen sich laut Blind zwei Ergebnisse: „Berlin schneidet überraschend gut ab. Und: Unternehmen in der Nähe von Forschungseinrichtungen sind innovativer.“

Je größer die räumliche Nähe zwischen Unternehmen und Forschungseinrichtungen ist, desto größer ist die Innovationsfähigkeit der Firmen. Dabei stützten sich die Forscher auf die Ergebnisse einer Innovationsumfrage von Eurostat, dem Statistischen Amt der EU. „Die meisten Gründer, die gerade aus der Universität gekommen sind, gehen nicht vom Standort der Uni weg in eine andere Stadt, sondern bleiben dort“, sagt auch Gornig. In dieser Hinsicht ist Berlin gut aufgestellt: Vier Universitäten, sieben Fachhochschulen, fünf Fraunhofer-Institute, fünf Max-Planck-Institute und dutzende weiterer Wissenschaftsstandorte sind hier beheimatet. Éntsprechend liegen die drei wichtigsten Hotspots, wo sich innovative Technologie-Unternehmen angesiedelt haben, in Charlottenburg, in Mitte und in Adlershof.

Sieht Berlin also einer rosigen Zukunft als Industriestandort entgegen?

Der Berliner Senat hat den Masterplan Industriestadt Berlin 2018–2021 beschlossen

Ganz so weit möchte Martin Gornig noch nicht gehen: „Es kann sein, dass das nur ein Strohfeuer ist.“ Damit sich Industrie dauerhaft in Berlin ansiedelt, müssen gewisse Voraussetzungen geschaffen werden. „Zum Beispiel muss die Flächenkonkurrenz-Frage gelöst werden“, sagt Gornig. „Man kann in der Innenstadt nicht nur Flächen fürs Wohnen schaffen, es muss auch genug Platz für Gewerbe da sein.“ Zudem müsse die Verwaltung schneller agieren, sagt Knut Blind: „Es gibt einen heftigen Standortwettbewerb um die Unternehmen, da muss die kommunale Verwaltung fit sein.“ Eine weitere Herausforderung ist die Digitalisierung: „Die Versorgung mit ultraschnellem Internet ist definitiv weiterhin ein wichtiges Thema. Wenn Berlin die Optionen im Rahmen der einzigartigen Infrastruktur im 5G-Testfeld nicht nutzen kann, dann wird eine große Chance vertan“, sagt Blind.

Tatsächlich wird der Ausbau der digitalen Infrastruktur von der Industrie eingefordert: Im Herbst 2018 hatte Siemens bekannt gegeben, 600 Millionen Euro in einen Innovations- und Zukunftscampus in Berlin investieren zu wollen – für die Hauptstadt die größte Einzelinvestition eines Industrieunternehmens nach dem Krieg. Siemens’ Bedingung jedoch die lückenlose Versorgung mit Breitband-Internet am Standort Siemensstadt.

Die Verwaltung zeigt sich zumindest bemüht, der Industrie entgegenzukommen: Im September 2018 hat der Berliner Senat den Masterplan Industriestadt Berlin 2018–2021 beschlossen. Das Papier umfasst die vier Handlungsfelder „Fachkräfte und Innovation“, „Digitalisierung“, „Rahmenbedingungen“ und „Marketing“, zu den selbst gesteckten Zielen gehört die Erhöhung der Flächen, unter anderem durch eine „Ankaufsstrategie für Industrieflächen“. Gornig bewertet den Masterplan eher verhalten: „Da stehen viele kluge Sachen drin, aber es ist unklar, wie das alles realisiert werden soll. Es gibt keine Zielmarken, es gibt keine Instrumente und es ist nicht vorgesehen, den Masterplan zu evaluieren.“

Und bei aller Euphorie über eine Reindustrialisierung der Städte sollte man die möglichen Nachteile nicht außer Acht lassen: Aus regionalpolitischer Perspektive ist es vielleicht weniger sinnvoll, Industrie in die großen Metropolen zu holen, weil ländliche Regionen dadurch noch stärker abgehängt werden könnten, gibt Gornig zu bedenken: „Wenn die neue Industrie sich in den Städten konzentriert, könnte dies das Stadt-Land-Gefälle noch verschärfen.“

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