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Chinesische Mauer: Die hohen Stufen der Ming-Dynastie

Wer Chinas Große Mauer besteigen will, braucht eine gute Kondition. Von Wachturm zu Wachturm geht es steil bergan.

Popsängerin Katie Melua muss länger nicht mehr in China gewesen sein. Von wegen „There are nine million bicycles in Beijing“. Neun Millionen Fahrräder in Peking? Diese Zeile ist genauso falsch, wie die liebliche Melodie des Popsongs uncharakteristisch für die Stadt wirkt. Beides passt so gar nicht zum Takt und zum Bild der chinesischen Kapitale. Wer sich hier lautlos auf zwei Rädern bewegt, fährt heute mit Sicherheit ein Elektro-Moped. Peking ist nicht zart und pittoresk. Ganz im Gegenteil.

Die alten Stadtviertel, die Hutongs mit ihren eingeschossigen Behausungen, werden weiterhin abgerissen. Die Stadt ist zu klein geworden für 18 Millionen Menschen. Sie entwickelt sich also immer rasanter in die Höhe – und ändert ständig ihre Silhouette. Baukräne recken sich zu Dutzenden in den Himmel, um vergleichsweise gleichförmige Hochhauskomplexe zu errichten. In kleinerem Maßstab müsste Berlin heute wohl so aussehen, wenn die Bundesrepublik Deutschland 1990 der DDR beigetreten wäre und die Stadtplaner der DDR völlig freie Hand gehabt hätten.

Der Ausflug zur Großen Mauer beginnt also mit Aha-Erlebnissen und mit vielen Fragen. Warum müssen die Chinesen über unsere Reisegruppe laut lachen? Und was sind das dort für eigenartige Baumärkte, die immer wieder die Route des Reisebusses durch die Außenbezirke säumen? Sie scheinen mit Steinen zu werben. Steine in äußerst bizarren Formen, die sich unmöglich zu einer Mauer fügen ließen. Wir werden bei passender Gelegenheit Yan Sijun fragen, den Reiseleiter, der uns von der Reiseagentur Wild China zur Seite gestellt wurde.

65 Kilometer von Pekings Stadtzentrum entfernt haben wir die weitgehend vegetationsfreie Stadtlandschaft verlassen und die Vergangenheit erreicht. Genauer gesagt, einen bestimmten Teil dieser Vergangenheit: einen strategisch bedeutsamen Abschnitt der Großen Mauer, der zu Zeiten der Ming Dynastie (1368–1644) errichtet worden war. Huanghuacheng heißt er. Das soll auf Chinesisch so viel bedeuten wie „wilde gelbe Blumen“, wie Yan Sijun versichert.

Wir nähern uns dem längsten je errichteten Bauwerk der Welt von der Seite – und folgen Yan. Er kennt eine flache Stelle, an der wir die Große Mauer relativ einfach erklimmen können. Vorbei an Kastanienbäumen, vorbei an Bauern mit Eseln. Hier wird gesät und geerntet. Acht Monate im Jahr freuen sich die Großstädter über Früchte aus ihrem Umland. Über Exotisches wie die mangoartige Persimon- Frucht, die sich ein halbes Jahr lang frisch halten soll.

Von gelben Blumen ist nichts mehr zu sehen. Nur die Luft ist hier gelblich. Der Smog der nahen Megacity? Orangefarbene Wolken aus Wüstensand, die die chinesische Hauptstadt schon einmal einhüllen? Oder von der Sonne eingefärbter Nebel in den Bergen? Auch Yan Sijun kann das Rätsel nicht lösen. In Peking werden wir die Sonne nicht mehr sehen.

„Was waren das für komische Steine, an denen wir auf dem Weg hierher vorbeigefahren sind?“ Yan sagt: „Das sind Ziersteine, keine Steine zum Bauen.“ Und er lacht prustend los. Die Steine symbolisierten die Ewigkeit. Es gebe sie als unbearbeitete Naturkunstwerke, als bildhauerische Objekte und als großformatige „Outdoor“-Steine. Wir lernen: So etwas gehört offenbar in jeden gepflegten chinesischen Vorgarten. Der Gedanke an einen Baumarkt sei dennoch nicht ganz falsch gewesen, sagt Yan. Da jeder einigermaßen bizarre Naturstein offenbar schon seinen Besitzer gefunden habe, werde inzwischen von Hand nachgeholfen. Im Zweifel brechen sich Chinesen einen Zacken aus der Felskrone, um die Nachfrage nach Steinen zu befriedigen. Ihre Lust am perfekten Plagiat ist in diesem Fall roh und unbehauen.

Der Mauerabschnitt Huanghuacheng bei der Ortschaft Yaoziyu wirkt noch original. Das hier ist kein Disneyland „made in China“. Es gibt hier keine Wachen, mancher Stein fehlt. Hier ist nichts restauriert. Dies ist etwas für Bergwanderer mit gutem Schuhwerk, nichts für Flachland-Tiroler mit Halbschuhen. Etliche der abertausend Stufen sind weggebrochen, seitliche Begrenzungen wurden zum Teil gar nicht erst errichtet. Der Wind in dieser Schlucht hätte sie auch hinweggefegt.

Yan Sijun ist uns bereits gefühlte zwei Pyramidenaufstiege voraus. Aufmunternd winkt er uns vom übernächsten Wachturm zu. Eine Stunde auf, eine halbe Stunde ab. Schon nach Überwinden der ersten Höhenmeter steht uns das Wasser in den Schuhen. Um sich die Arbeit zu erleichtern, haben die Bauherren der Ming-Dynastie die Stufen sehr hoch bauen lassen. Nur gut, dass Yan Sijun am Bus Mineralwasser verteilt hat. Von Wachturm zu Wachturm geht es steil bergan. Etwa alle 500 Meter steht einer. Die Wächter verständigten sich hier mit Rauchzeichen. Und da musste man sich natürlich sehen können. „Wie ging das genau, Yan?“ Nun, zum Beispiel so: Ein Mal Rauch bedeutete: 100 Angreifer, zwei Mal Rauch das Doppelte. So in etwa. Die Wachtürme sind zugig. Es gibt viele Löcher und Durchlässe. Solche für Bogenschützen und solche, die einerseits den Wind durchlassen und andererseits geeignet waren, den an der Mauer stehenden Feind mit größeren Gesteinsbrocken zu begrüßen.

Etwa alle 1000 Meter finden sich in die Mauer eingelassene Steintafeln mit noch gut erkennbaren Schriftzeichen. „Eine frühe Qualitätskontrolle“, sagt Yan schmunzelnd. Ins Hier und Heute übertragen: Es sind Bauschilder, die Bauherren und ausführende Stellen, Bauaufsicht und Subunternehmer verzeichnen. Und zwar sektionsweise. Brach einer der Abschnitte zusammen, waren die Schuldigen schnell gefunden. Ihr Tod war besiegelt. Doch schon die schwere Arbeit an sich raffte viele dahin.

Die Maurer haben nicht nur gut, sondern richtig gut gearbeitet: Die Große Mauer wäre längst zerbröselt, wenn Wasser in sie hätte eindringen können. Doch die Boden- und Seitenplatten, die den Kern aus Lehm, Sand und Schotter ummanteln, verhindern dies bis heute. Es wurden härteste Natursteine verbaut. Nur dort, wo sie nicht verfügbar waren, wurden Steine gebrannt. Sie sind offenbar bis heute unverrückbar eingepasst. Hier musste noch nichts restauriert werden.

Angekommen auf dem höchsten Punkt dieser Etappe empfängt uns ein entspannter Yan. Weit unten sehen wir den Jintang-See und die alte Kasernenanlage von Yaoziyu. Die wollen wir uns näher ansehen. Denn auch sie wurde zu Zeiten der Ming-Dynastie erbaut, für die Wachmannschaften.

Gut erhalten präsentiert sich die Anlage dem Besucher. Geblieben ist auch ein Mahlstein und ein offensichtlich uralter Baum. Letzterer wird in gewisser Weise staatlich gestützt: Nach allen Regeln der Kunst wird er mit stählernen Trossen und Pfählen senkrecht gehalten. Denn dies ist ein besonderer Baum. Die Chinesen sagen, es bringe Glück, ihn zu berühren.

Und dann haben wir es wieder: Auch die Einwohner dieser kleinen Ortschaft müssen über unsere Gruppe lachen. Auf die hochgewachsene Touristin aus Hamburg mit den roten Haaren zeigen besonders viele Finger. „Was macht uns eigentlich für die Menschen hier so komisch, Yan?“ Erneut muss er losprusten. Da Yan ein Jahr in Amerika studiert hat, ist er mit der westlichen Denkweise vertrauter und erklärt: „Die meisten Chinesen waren schließlich noch nie in anderen Ländern – wenn sie westliche Ausländer sehen, sind sie überrascht, ja glücklich. Sie bestaunen euch, wie ihr die Pandas in euren Zoos anseht.“ Die langen Nasen, die weiße Haut, die blauen Augen, die roten oder blonden Haare – so so, wir wirken auf manche Chinesen also wie fremdartige Tiere. Den Eindruck müssen wir erst einmal verkraften, insbesondere die Hamburgerin.

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